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Drei Karotten, fünf Kartoffeln, eine Zwiebel, Apfelsaft Drei Karotten, fünf Kartoffeln, eine Zwiebel, Apfelsaft ... Was wollte ich eigentlich im Keller? ![]() Klinisch zum Thema wurden in den 1960ern zuerst die extravertierten "Zappelphilippe", die ja auch alles zu tun scheinen, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Und dies waren tatsächlich mehrheitlich Jungs, die mit ihrem schillernden Verhalten naturgemäß Reaktionen und eben auch Diagnosen provozierten - das Missverständnis der sogenannten „Androtropie“, des Jungs-Überhangs. Ab den 1970ern und 80ern kamen allgemeiner Kinder und Jugendliche mit Aufmerksamkeitsdefiziten (AD) ins Blickfeld, zum Beispiel auch die eigentlich größere Untergruppe (30%) der leicht ablenkbaren "Themenhüpfer" (man erinnere sich an den Hund "Dug" aus dem Pixar-Film Up), die in Reinform durchaus häufiger zu finden sind als jene mit der auffälligeren Hyperaktivitäts-Störung (HS, 10%). Meistens (zu 60%) hat man es ohnehin mit einem Mischtypus zu tun, mit dem sich dann auch die Kürzel zur bekannten Aufmerksamkeits-Defizit/Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) aufaddieren. Genau genommen sollte man vom "Themenhüpfer"-Typus noch den stark introvertierten Hans (und die Hanna) Guck-in-die-Luft unterscheiden, die wie das Bürokraten-Faultier Flash aus Zoomania lange brauchen, sich überhaupt etwas zuzuwenden, darüberhinaus auch unter Brainfog leiden, chaotisch planen und oft ein Gedächtnis wie ein Sieb haben. Diese Hardcore-Tagträumer gelten allerdings bisher noch nicht als eigenständige Störung. Klinisch werden sie als "nicht näher bezeichnete ADHS" rubriziert, dabei hat der US-Psychiater Russell Barkley bereits 1984 einen Namen gefunden: "SCT". Also die, die schluffig mit "sluggish cognitive tempo" unterwegs sind. Sie finden sich zu 30% unter den ADHSlern, v.a. unter den Themenhüpfern, kommen aber auch ohne ADHS vor (und sind insbesondere zu unterscheiden von der schizoiden Persönlichkeit). Ganz offensichtlich ohne "H", aber mental dafür besonders schlaff und schläfrig. Auch Ü20 fügen sich ADHS-Betroffene einerseits mit ihrer „verhaltens-kreativen“ Art gerade beruflich nicht leicht in vorgegebene Raster, sind andererseits oft im besten Sinne weniger oberflächliche, „querdenkerisch-kreative“ Persönlichkeiten, die jene althergebrachten Raster auch mal aufzusprengen vermögen. Der Zeitgeist fordert zwar Anpassung und quält damit die ADHS-"Abweichler", feiert aber ebenso jene unter ihnen, die es geschafft haben: Früher waren es wohl Da Vinci, Mozart oder Einstein, heute Kurt Cobain, Ingvar Kamprad, Emma Watson oder Justin Bieber - ADHS Deutschland e.V. nennt es frech die „hipste Störung“ überhaupt. Und ja: positiv gewendet imponieren bei ADHSlern nicht selten Hyperkonzentration, Energie, Risikobereitschaft, Leidenschaft und Phantasie. Ungereimt - aber keine Ausnahme in der Psychiatrie - scheint auch, dass bei Unsicherheiten in der Diagnosestellung eine untypisch fokussierende Wirkung nach Gabe von aufputschenden Medikamenten geradezu als Beleg für das Vorliegen der ADHS gelten kann. Und tatsächlich versichert die Forschung, dass Metylphenidad (MPH) und Co. meist vor Schlimmerem bewahren, gar „Normalität“ ermöglichen. Betroffene sollten es also zumindest nicht scheuen aus Angst vor Nebenwirkungen, eher ist es nachvollziehbar, wenn sie befürchten, sich so ihr „Lebensbenzin“ auszutrocknen. Die Hypothese des organischen Schicksals einer neuronalen Entwicklungsstörung mit nur bedingten mentalen Korrekturmöglichkeiten konnte durch bildgebende Verfahren bestätigt werden. Auch Freud, dessen Psychoanalyse sich seit 1900 um besonders rasiermesserscharfe mental-kategoriale Einordnungen kümmert, nannte die ADHS avant la lettre eine „organische Eigentümlichkeit“, mitunter durchaus ödipal motiviert, aber zu selten, um die typischen psychoanalytischen Interventionen an unbewussten Persönlichkeitsaufhängungen für sie fruchtbar zu machen (Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 1917). Man ist weitgehend so geboren, denkt sich nicht nur so oder ist eigentlich ganz anders. Und: man hat es wahrscheinlich - die noch besonders erklärungsbedürftige Spätmanifestationen als Ausnahme zur Regel - geerbt. Auch wenn die eigenen Eltern dies gern leugnen... Unklar bleibt, wie und zu welchem Anteil Probleme während der Schwangerschaft bzw. zwischenmenschlicher Stress während der ersten Lebensjahre die ADHS erst so richtig hervorbringen und verstärken (dass doch Probleme in der vorgeburtlichen und dann frühen Interaktion mit zu wenig zusammen geteilter Aufmerksamkeit auf etwas Drittes grundlegender als das genetische Erbe sind, vertritt eher als psychoanalyse-affine Einzelmeinung der Neurobiologe Gerald Hüther). Somit ist die ADHS ursächlich v.a. ein hirnphysiologischer Befund, so sehr auch für den Patienten der Weg zur Diagnose nur über eine hochdifferenzierte Beurteilung der psychischen Auswirkungen erfolgen kann. In der Nachfolge Freuds spekulierten die Psychoanalytiker, ob die ADHS so zu verstehen sei, dass hier wiederum speziell Jungs aus früh erlebtem Übermaß an Mutternähe herausflüchten müssen und dann fatalerweise in dieser Fluchtbewegung hängenbleiben. 1944 präzisiert Margaret Mahler diesen Gedanken als ein Scheitern an der Entwicklungsaufgabe, Affekte (v.a. das frustrierte, selbstunsichere „innere Bewegtsein“) NICHT mehr wie ein Baby in motorische Bewegung übersetzen zu müssen: „Gefühlsinkontinenz“ nennt sie das. Ein Leben in einer beschleunigten "Metonymie des Begehrens", bei dem selbst dem Umfeld die klaffende Leere zwischen all den wechselnden Faszinationsobjekten geradezu plastisch vor Augen geführt wird... Fest steht, dass ADHSler "Aufmerksamkeit brauchen": mal in dem Sinne, dass zu viel Aufmerksamkeit und Betüddeltwerden zur "Mutterflucht" (und zur Gedankenflucht) führt und man sich sehnlichst den eigenen Fokus zurückwünscht, mal insofern Nähe und Beachtung fehlen und die hyperkinetische Unruhe quasi als Köder dient, um die Aufmerksamkeit anderer allererst zu erregen (leider können die ADHSler dann mit dem Fang nichts anfangen: als lehnten sie gerade an sich selbst ab, das Buch nach dem Cover beurteilt zu wissen). Mit dem französischen Freud-Remixer Lacan kann man auch ätiologisch überlegen, ob die ADHS bei aller vermeintlichen Enthemmung nicht doch auch der Hemmung ähnelt, also nach psychoanalytischer Lesart eigentlich gar kein Konflikte kompromisshaft darstellender Symptomverbund ist, sondern eher die Symptombildung recht kompromisslos vermeidet und Betroffene höchst moralisch immer wieder vor Ausführung einer Handlung (zu welcher der Mut fehlt) verunsichert werden und sich per depressiv anmutendem Gedankenabort wegducken. Die Organe, auch das Gehirn, wären hier gerade nicht einfach "ab Werk" aufmerksamkeitsdefizitär geliefert, sondern erst durchs unbewusste Sprachgesteuertsein aufs Innehalten und Anderesmachen programmiert. So oder so zeigt sich der Effekt an einem gewissermaßen dauerüberlasteten, gewissermaßen virenbefallenen „Random Access Memory“: Gerne werden in Schleifen ältere Anfragen und Bedenken beackert, während man wie auf dem Rummelplatz von jeder Kleinstsensation abgelenkt und doch nie wirklich parat für eigentlich ernstzunehmende Neuanfragen ist. Auf diese Weise fungiert die ADHS als Top-Beispiel für Hirnandersheit bzw. Neurodiversität. Weiterreichende, spezifischere mentale Probleme ergeben sich dann je nach Persönlichkeitsneigung, denn die ADHS fungiert sehr bald als "Drehscheibe“ zu anderen Störungen. Als "Typen" findet man dann etwa die Frustrierten, die Verletzlichen, die Irritierbaren, die Lustbefriediger, die Entmutigten, die Sorgenwälzer oder auch die Gelangweilten. Nimmt man, woran diagnostisch kein Weg vorbeiführt, an der ADHS vor allem die Abweichnungen bei den (angespannten/erschlafften) Kognitionen ins Visier, so liesse sich als normativer Kontrast die perfekt Probleme abarbeitende künstliche Intelligenz heranziehen, dergegenüber die „natürliche Dummheit“ gerade bei Aufmerksamkeitsdefiziten an Gehlens Mängelwesen erinnert, das halt erstmal Sinn braucht, um Aufgaben rational abzuarbeiten. Oder mit Kant: das nichts einfach mal nur mit interesselosem Wohlgefallen erblicken und schön finden kann. Als CEO in eigener Sache ist man also eher ein HEO: ein "Heiopei Executive Officer" (ADHS-Forscher Barkley nennt es "EFDD", eine "Executive Function Deficit Disorder" und unterstreicht: "Das Kernproblem liegt nicht im Langzeitgedächtnis, sondern im Arbeitsgedächtnis. Man vergisst nicht einfach Informationen und Fakten. Man vergisst, was man gerade tun wollte, was man eigentlich tun wollte, was das ursprüngliche Ziel war. ADHS zu haben ist insofern eher vergleichbar mit der Vergesslichkeit in den Wechseljahren oder im hohen Alter"). Nebst dem Arbeitsgedächtnis sind exekutiv beeinträchtigt das Go-/No-Go-System und die Reizfilter. Damit zusammenhängend aber auch die vorderen (innere Reize ordnenden) und hinteren (äussere Reize ordnenden) Aufmerksamkeitssysteme, die Emotionsregulation sowie die funktionalen Verbindungen in dem Dopamin- (interne Ordnung, Belohnungserwartung), dem Noradrenalin- (Stimmung, Fokus, Wachsamkeit), dem 5-HT- (Impulskontrolle, Schlafrhythmus, Schmerzempfinden, Appetit/sexueller Hunger) und dem GABA-Transmittersystem (körpereigenes Glutamat als Stresshemmer). Soweit zu meinen aus der Lektüre inspirierten Vorüberlegungen. Denn das bereits 2003 in erster Auflage erschienene Standardwerk der maßgeblichen deutschen Pionierautoren (treibende Kräfte für die weltweit ersten Leitlinien bzgl. Erwachsenen-ADHS) mit seinem breiten Panorama klinischer Forschungsergebnisse ist ein wahrer Fundus an Denkanstößen. Ein besonderes Highlight sind meiner Meinung nach die vielen Erfahrungsberichte, die Fleisch auf die szientifischen Knochen geben. Das Inhaltsverzeichnis zeigt, welche Themengebiete dabei abgedeckt werden. Es geht jeweils ausführlich um die… ... Historie: anekdotisch taucht die ADHS 1775 bei Melchior Adam Weickard auf („auf hundert Nebendinge springen … wie ein junger Franzose gegen einen gesetzten Engländer“), als einer der ersten Comic-Strips 1885 bei Heinrich Hoffmann aka Reimerich Kinderlieb und seinem von den Krauses dauerzitierten Struwwelpeter, fachlich versiert dann 1902 beim britischen Kinderarzt George Frederick Still, ... Verbreitung: ca. 4-20% unter Kindern und Jugendlichen, wovon später viele unauffälliger mit ihren Symptomen haushalten (etwa die Hyperaktivität weg von impulsiven Verhaltensweisen hin zu einer projektabarbeitenden „Multiaktivität“ kanalisieren) oder in andere Störungen "abwandern" - als diagnostizierbare ADHS-Erwachsene verbleiben zwischen 1 und 7%, ... Neurobiologie: das "Scatterbrain" kennt keine direkten biologischer Marker, aber heuristisch nennt das sogenannte Zwei- bzw. Drei-Wege-Modell (gemäß dem britischen Ex-Punker und Entwicklungspsychologen Edmund Sonuga-Barke) grundlegende Auffälligkeiten einer solchen "alternativen Hirnverdrahtung": Es zeigen sich fast immer Schwierigkeiten 1) bei den dorsolateral präfrontalkortikalen "kalt-exekutiven" Selbstregulierungsprozessen im Aufgabenabarbeiten, 2) bei der orbital/medial präfrontalkortikalen "heiß-exekutiven" Motivation - ein Allergischsein gegen jeden Aufschub der erwarteten Belohnung - sowie 3) bei der fronto-cerebellaren Zeitverarbeitung (in einen guten Flow kommen, Dinge auch kleinteilig zeitlich enordnen können, längere Zeiteinheiten erinnern), ... Diagnose: als mehrschrittige Längsschnitt- und Ausschlussbewertung sollte die AHDS mit einer SEHR langen Liste - Stichwort „Drehscheibe“ - anderer Krankheiten abgeglichen werden, die dann möglicherweise "nur" als Begleitstörungen zu werten sind: - Depression (begleitend bei ca. 30%, innerhalb der ADHS aber oft als Dysphorie - selektiv bei Desinteresse), - bipolare Störung (Cave! Bei ADHSlern sind es weniger klar abgrenzbare Perioden zwischen beflügelndem Hyperfokus in zu eigen gemachten Projekten und runterziehendem Hyperfokus aufs Scheitern), - Angststörungen (bis zu 50%), - Autismusspektrum-Störungen (ca. 40% und auch mit neuropathologischen Parallelen), - Zwangsstörungen (ca. 15%, psychodynamisch lässt sich hier an die erwähnte Hemmung denken, wie sie bei - auch nur vorsymptomatisch - zwangsneurotisch Strukturierten oft vorliegt), - PTBS (die ADHS-Zerstreutheit verstärkt sich), - Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten/antisoziale Persönlichkeitsstörung (bis zu 30%), - Substanzmissbrauch (über 50%, ohne ADHS konsumiert auf bedenkliche Weise nur etwa die Hälfte, populär sind v.a. THC, Stimulanzien und Kokain), - Borderline-Persönlichkeitsstörung (mit vielen Parallelen in sekundärer Symptomatik), - Tourette-Syndrom (31-86%), - Teilleistungsstörungen (eher bei Kindern, die weniger Talent zum Kaschieren haben), - Schlafstörungen (sehr häufig, auch wegen häufiger, B-Society-artiger anderer innerer Uhr und dem Aufleben in stilleren Stunden), - Hourding (28% der Messies haben ADHS), - Fibromyalgie/Chronic Fatigue Syndrom und Migräne (die Neurotransmitter-Störungen sensibilisieren die Schmerzwahrnehmung), Herausgreifen könnte man z.B. die depressive Verarbeitsungsweise, zu der hin gemäß dem inhaltlich differenzierenden Züricher Psychiater Heiner Lachenmeier ADHSler ohnehin tendieren, und die Borderline-Störung, die ja einst auch vor-symptomatisch das uneindeutige Grenzgebiet zwischen Verdrängung und Verwerfung bezeichnete. … Symptome: Allgemein (wie bei den Kids): - Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen (Ausfälle in der "Metakognition", also häufiges Abtauchen in den Kaninchenbau, in dem man dann viel, sehr viel Zeit verbringen kann. Was Pros und Cons hat: leichte „Ablenkbarkeit“ bzw. „Reizoffenheit“ kann dazu führen, dass man viel Zeit im Untergrund herumirrt, aber auch dazu, dass man dort per „Hyperfokus“ Tiefenfunde macht, welche die Oberflächen-Normalos mit offenem Mund oben vorm Eingang zum Bau zurücklassen. Auch wenn diese Fähigkeit zum besonderen Zoom manchmal schwer vom Grübeln oder persevierenden Zwangsdenken abzugrenzen ist, sie zeigt den ADHSler als äußerst leistungsfähig, mithin so gar nicht dem Image eines Halodris entsprechend), - Hyperaktivität (Ausfälle bei der gutartigen Hemmung: bei Erwachsenen v.a. als innere Unruhe), - Impulsivität (Reinreden, schnell "Zuviel-Bekommen", unüberlegte Spontanhandlungen - speziell in der Zusatzdiagnose des "gestörten Sozialverhaltens"). Zusätzlich nach den "Wender-Utah-Kriterien" (1971 in Utah vom Psychiater Paul H. Wender, der dann in den 1990ern Erwachsenen-ADHS plausibel machte, erdacht): - Desorganisation, - emotionale Inkontinenz: niedrige Frustrationstoleranz, Jähzorn, abrupte Stimmungsverdunklung (in Konsequenz führt diese Art der Mitautorenschaft an der eigenen Biographie zu viel verbrannter Erde und oft zu ebenso vielen Neuorientierungen, fallen entsprechend häufige Job- und Partnerwechsel auf). Zusätzlich nach Krause & Krause: - Selbstwertproblematik, - extreme Hektik und Ungeduld ("die Hummeln haben" oder umgekehrt, nach abgestossenen Hörnern, die Verwandlung in eine „Schlaftablette“), - Logorrhö/Labertaschenhaftigkeit. … gängigen Therapieformen: v.a. das notorische Ritalin (wegen "Rita", der Frau des Schweizer Chemikers Leandro Panizzon, dessen Privatexperiment 1944 ihr Tennisspiel deutlich verbessert haben soll) und anderen ja paradoxerweise sonst aufputschenden Mitteln. Selten kann eine Krankheit so schnell behoben werden, ein Drifter auf Kurs gebracht werden wie bei der ADHS, selten aber auch wird so hartnäckig von Betroffenen und Angehörigen das Leben oder die Begleitkrankheit verantwortlich gemacht, müssen dann unglücklicherweise THC oder Kokain ersatzweise zur Korrektur herhalten. Eine Totalisierung medikamentöser Symptombekämpfung ist zu vermeiden, weshalb ein multimodales Setting inkl. Selbsthilfegruppen, Psychoedukation, Verhaltens- oder Psychotherapie (auch in Paarung mit nahen Angehörigen) zu empfehlen ist. Abgerundet wird das 460 Seiten starke Kompendium durch zwei hilfreiche Anhänge: ein semistrukturiertes Interview und die Leitlinien auf der Basis eines Expertenkonsensus. Link zu Amazon Innere Polizei- und SeelsorgearbeitDer auch theologisch informierte Diplompsychologe Roland Kachler ist ein erfahrener Autor, der sich mit dem Thema der „Komplextraumata“ nun an Therapeuten wendet, die Menschen nach mehrfachen menschverursachten Schocks (nicht nur einem einzelnen Riesen-Horror) helfen möchten. Diese Diagnose ist erst seit dem ICD 11 diagnostizierbar, abgegrenzt von der teils ähnlichen Borderline-Persönlichkeit ab. Kachler hält sich nicht lange mit theoretischen Grundlagen auf (ohnehin scheint in der Traumatherapie, etwa auch das EMDR oder die kleinschrittige Titration, oft nach dem Prinzip „was hilft hat Recht“ zu funktionieren) und setzt voraus, dass sich Therapeut wie auch Patient ohne weiteres auf die Analogie eines Eindringlings ins psychische Haus einlassen können. Wie so oft bei Einordnungsschwierigkeiten kann hier zunächst zur Orientierung ein Blick auf die erkenntnistheoretische Grundlagen mitdenkende Psychoanalyse weiterhelfen: Der frühe Freud zumindest meinte vom neurotischen Symptom (und auch sehr ähnlich vom Trauma), dass es beim Kind eine Überwältigung/Überforderung gibt, auf die hin allgemein menschliche, wie spezifisch individuelle (neurotische) Abwehrmechanismen in Gang gesetzt werden. 1896, noch zusammen mit Josef Breier, theoretisiert Freud anhand des Falls der „hysterischen Emma“, dass sie - bevor sie wissen konnte, was das bedeutet - von einem Ladeninhaber „verführt“ wurde und dann mit einer Phobie vor Geschäften darauf reagierte. Schon 1897 verwirft Freud seine Verführungstheorie (=erst reale Übergriffe führen zum Trauma/zur Neurose), und spätestens 1905 ersetzt er sie durch eine Art „VerführungsEINBILDUNGstheorie“ (der Mensch allgemein trägt schon strukturell in sich die Veranlagung, frühe Triebregungen phantasmatisch aufzuladen und sie v.a. nach späterer „Aufklärung“ unbewusst umzudeuten oder in neurotische Eigenheiten zu konvertieren). Diese beiden Varianten der Traumaverursachung ähneln nach einer typisch weit hergeholten Assoziation Zizeks Einsteins Move von der speziellen zur allgemeinen Relativitätstheorie (von Krümmung des reinen Vakuuum-Raumes erst durch das Hinzutreten von Materie hin zu einem je schon „gekrümmten“ [analog „traumatisierten“] Raum). Zurück zur erwähnten psychoanalytischen Idee der Nachträglichkeit/Retroaktivität. Eigentlich ist diese auch Blaupause der heutigen PTBS: 1) ein äußeres Schockereignis 2) … mit sexueller/letaler Potenz 3) … und Rätsel- bzw. Überwältigungscharakter im Moment des Erlebens 4) muss erst verdrängt werden und kehrt später, also „nachträglich“ als nicht abreagierbares, fossilisiertes Symptom wieder… Auch der Freud-Renovierer Lacan bekennt sich zu einer dem intuitiven Alltagsverständnis widerstrebenden Kausalitätsauffassung. Wen Details interessieren: Schon in seinem 1946er Artikel „Vortrag über psychische Kausalität“ attackiert er den simplen „A löst B aus“-Determinismus (des immerhin eine ihm nahe stehende dynamische Psychiatrie vertretenden Henri Ey), im 11. Seminar unterscheidet er dann mit Aristoteles zwischen automaton und tuché (trou-matische Löcher in symbolischen Automatismen ) und in seinem 15. Seminar schließlich kontrastiert er die Reflexe von Pawlows Hunden (und selbst den wissenschaftlichen Reflex von Pawlow auf jene) mit Caesars schicksalshafter Entscheidung, den Rubikon zu überschreiten. Darüberhinaus philosophiert Lacan aber tiefer als Freud über eine dem Menschen „wesenhafte“ Erklärung des Traumas: Der Mensch sei Mangelwesen bereits durch die „Kastration“ der Sprache bzw. des Denkens, welche jegliche Unmittelbarkeit verhindere und z.B. das Wollen nur noch „nachträglich“ zu rekonstruieren erlaubt. Wie bei Einsteins allgemeiner Raumkrümmung gibt es hier also ein allgemeines Trauma schon vor und unabhängig von einem Schicksalsschlag oder einer tiefen Demütigung. Dieses permanente Rekonstruieren der Absicht findet sich letztlich auch im ständigen Denken/Hantieren mit einer mensch-exklusiven Wahrheit, ein Rückgriff, der es allererst erlaubt, auf das traumatische, radikal andere einer „bösen“ Absicht zu stoßen. Sofern es stimmt - so eine weitere psychoanalytische Grundthese -, dass man immerzu etwas „denkt“ und mit diesem impliziten Rückschluss auch immer etwas „will“, selbst im Schlaf (merklich im Traum mit der alternativen Bildersprache des Films), so fragt sich also, von welchem Alp man in welche Realität aufwacht. Anders gesagt: Was ist traumatischer, was ist härter, die geteilte Realität (wie sie etwa die „harte“ [Natur-]Wissenschaft als ihr Objekt braucht) oder die private, letztlich träumerische Wahrheit? Verhandelt wird diese erkenntnistheoretische Frage nach der richtigen Verortung des Traumas in der Psychoanalyse unter dem Stichwort „Vater, siehst du nicht, dass ich brenne?“ Diese Anklage geht zurück auf einen klassischen, x-fach diskutierten Traum eines Patienten von Freud, den jener pikanterweise während der Toten-WACHE für seinen verlorenen Sohn träumte. Er wacht erst dann in die traurige Realität auf, als ihm der Rauch des Feuers scharf in die Nase dringt, ausgelöst durch eine aufs Leichentuch gefallene Kerze. Im davon durchaus wohlinformierten Traum des Vaters stellt ihm der Sohn jene vorwurfsvolle Frage. Was also führt den Wechsel zum Wachsein, zum „Vorstellen-und-Träumen-mit-Realitätsindex“ herbei, der reale Rauch, oder der geträumte Vorwurf? Ist es letzterer, so kann das Wachsein, und dies verteidigt Lacan, feiger sein als zu schlafen. Vom Horror der geteilten und zu teilenden Realität im „Selbsthypnotisiertsein“ während des Wachens driftet man also in den Alp des Schlafens, welches sozusagen - innerhalb eines Moebiusband-artigen Kontinuums - nur noch näher an die traumatische Wahrheit eines bei jedem Subjekt irgendwo gesättigten Schuldgefühls rückt. Denn an die allgemeine Traumatisierung (die Kastration durch Sprache) können später - stets wie in hegelscher Retroaktivität, also nachträglich, ab Reifung zum selbstreflexiven Wesen - bei der ständigen Absichts- und Sinnsuche jederzeit weitere kastrierende Erfahrungen andocken. Von hier aus lässt nun besser das mitunter selbst noch im Wachzustand „Unbehagen“ verbreitende Trauma begreifen, das Kachler im Auge hat, wenn er von traumatisierten Ichzuständen spricht (das allgemeine Trauma als notwendiger Nährboden spielt bei ihm aber überhaupt keine Rolle): Sein angekündigter „neuer Ansatz in der Traumatherapie“ bezieht sich einerseits auf die Ego-State-Therapy, derzufolge viele Persönlichkeitsanteile/Rollen ko-existieren und unter einen Hut gebracht werden sollten (nach Ferenzci und Federn in der ersten Generation von Psychoanalytikern brachten in den 1980ern John Watkins und andere die Konferenz vieler, auch befremdender innerer „Persönchen“ in eine therapeutisch gut anwendbare Form). Andererseits geht es Kachler insbesondere darum, es den von lärmenden traumatisierten inneren Teilperönlichkeiten (aka Ich-Zuständen) terrorisierten Subjekten zu ersparen, zwecks Heilung zuallererst „Täterversteher“ zu werden, wie es manche Theoretiker (auch die der Ich-Zustände) für unabdingbar hielten. Kachlers Ansatz diskutiert erst gar nicht mit dem inneren Täter, sondern weist ihn zurecht, weist ihm die Tür und weist ihm die passende Strafe zu. Denn ein Trauma hinterlasse Täter-Spuren im Denken - im Extremfall bis in die Körpervorgänge und Erbinformationen hinein. Weit optimistischer als die psychoanalytischen Vertreter eines Menschenbildes ontologischer Mangelhaftigkeit hofft Kachler, dass sich solche sogenannten Trauma-„Imprints“ ohne Weiteres symbolisieren und verbalisieren lassen, sofern sie nur in bebilderte Körperräume übersetzt und von einem einfühlsamen Therapeuten (sowie einem imaginären Retter) begleitet werden. Diese „Tatortreinigung“ soll in vielen listenartig durchnummerierten Säuberungsschritten vollzogen werden, bis der böse Geist gründlich ausgetrieben ist. So könne das explizit „weiblich“ adressierte Opfer wieder zu sich finden - diese vielleicht feministisch gemeinte Ansprache wirkt auf manchen Leser und wahrscheinlich noch mehr auf männliche Gewaltopfer allerdings sicherlich nicht allzu empowernd… Überdies suggeriert die manualisierte Form des Schritt-für-Schritt-Durcharbeitens einen in der therapeutischen Realität eher selten anzutreffenden linearen Prozess der Traumaverarbeitung. Allerdings sei diese Idealform wohl vor allem didaktisch zu verstehen. Trotz einiger, gerade aus fundierterer psychoanalytischer Sicht auffälliger Simplifizierungen und den Ungereimtheiten der Reinstallation einer Herrin-im-eigenen-Hause lohnt die Lektüre dieser (Ego-)State-of-the-Art-Präsentation. Attach - MentalitätenSie gilt als bestbeforschter Voraussagefaktor für psychische Störungen, und doch gab es bisher zu der auf Bowlby (und Ainsworth) bzw. die End-1950er zurückgehenden Bindungstheorie keine explizite, sie im Namen tragende Therapie. Dies ändert sich mit der hier im Schlussartikel präsentierten, vom Herausgeber inittierten "bindungsbasierten Beratung und Therapie" (BBT). Der vorliegende Sammelband von 15 Aufsätzen unterstreicht auf 336 Seiten, dass Bowlbys Einsichten in fossilisierte frühkindliche Bindungsstile heute in den unterschiedlichsten Therapieformen anerkannt werden. Nicht verwunderlich, machen sich doch Bindungshaltungen im Grossen wie im Kleinen bemerkbar, kognitiv, affektiv, sozial, aber auch politisch. Darauf kann man unanbhängig von der Therapieschule mit Hilfe der Bindungstheorie eingehen, gleichsam wie man auf schwierigem Terrain den Geländantrieb zuschaltet. Dies tut etwa die systemische Therapie, der es ja tatsächlich je schon um das Herausarbeiten von Bindungsnetzwerken ging. Aber auch die populäre kognitive Verhaltenstherapie bezieht sie mit ein und auch Peter Fonagys Konzept des Mentalisierens ist sie inhärent. Nebst der Frage, welche "Therapieschulen" besonders viel mit der Frage nach Beziehung und Bindung anfangen konnten, widmen sich einige Aufsätze auch einzelnen Störungsbildern, die vermutlich infolge von enttäuschten Bindungsbedürfnissen entstehen: bei den "früh" grundgelegten Traumata und Persönlichkeitsstörungen, noch allgemeiner (und eigens abgehandelt) bei der Entwicklung des Stresssystems und des psychoneuronalen Immunsystems. Am wenigsten erwartet, aber mit am spannendsten war Herbert Renz-Polsters Artikel "Politik auf dem Wickeltisch", der einen Blick wirft auf die Bindung als Faktor bei der Herausbildung der sogenannten autoritären Persönlichkeit, also sowohl Tyrannen als auch ihren allzu bereitwilligen Gefolgsleuten. Der psychoanalysierende Adorno in den 1950ern: Unterdrückte werden gern wieder unterdrückt - oder zu Unterdrückern. Präziser die Bindungsforschung 2020er: früh fehlende Bindungsarbeit aka Zuwendung züchtet ängstliche, im Auftreten aber autoritär erscheinende Menschen heran. Was ihnen früh fehlte macht sie lebenslänglich abhängig vom Abhängigsein, von Autoritäten ("Flucht in die Sicherheit"). Apropos Psychoanalyse: die Bindungstheorie entstand ja eigentlich in ihrem Schoss, war Bolby doch zunächst Anhänger der Objektbeziehungstheorie. Allerdings führte ihn gerade die Haltung seiner Supervisorin, Melanie Klein, in die Dissidenz, wo er sich nicht darauf einlassen wollte, nur vorgestellten Beziehungen Aufmerksamkeit zu schenken, sondern (wie Freud einst mit seiner These realer Frühübergriffigkeit von Bezugspersonen) auch ganz konkret beobachtbare Bindungen zur Grundlage nahm: vereinfacht gesprochen stehen bei ihm nicht im Vordergrund aufs Ödipale hin überhöhte Klagen über die Eltern als ungut verinnerlichten Objekten, sondern ganz allgemein eben die Frage, wie und wie gut das Bedürfnis nach Sicherheit früher gestillt wurde und entsprechend jetzt im Kontakt mit anderen immer wieder mehr oder weniger klar und angemessen spürbar wird. Damit ist für die Bindungstheorie das sozial gespiegelte Leben Fix- und Ankerpunkt, wie es kontraintuitiv von Hegel, Nietzsche oder auch Freud zur Nebensache - verglichen mit stärkeren Vektoren - erklärt wurde. Wenn es ein Vermächtnis der Psychoanalyse ist, das Wesen des Menschen auch darin zu erkennen, dass er sich gegen den Wunsch nach Halt in haltlose Strudel begibt, dass er sich kasteien und Dinge aufs Spiel setzen kann, so entfernt sich Bowlby aus dieser "gefährlichen", kopernikanische Gewissheiten erschütternden Psychoanalyse und schlägt sich auf die Seite des bewussten, selbstaufwertenden Sicherheitsdenkens, sympathisiert mit Darwin und der Biologie des Anpassens und Überlebenwollens und bedient sich hierfür eklektisch bei Argumenten aus Evolutionsbiologie, Verhaltensforschung, Kognitionswissenschaft, Anthropologie und Kybernetik. Dabei zeigt er sich recht ähnlich dem anderen grossen Freud-Dissidenten: Lacan. Dieser aber blieb bei allem Widerstandsgeist durchaus freudianisch in der Grundüberzeugung, dass die Subjekte vom Unbewussten her als dezentriert, innerlich niemals sicher gebunden, sondern fundamental "entbunden" gelten müssen. Den viel mehr als bei Klein ewig schillernden inneren Objekten der Begierde sei der Mensch auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, so Lacan, der somit bindungstheoretisch mit nichts anderem als "unsicher" gebundenen Subjekten rechnet. Die Sprache entferne von Welt, färbe zugleich die Vorstellungen von Objekten, die immer wieder neu locken und doch unerreichbar auf Diatanz halten. Sicherheitsstreben und Rationalität haben von da aus nur noch den Status eines Aberglaubens, eines Schutzamuletts fürs gute Gefühl. Schwer zu sagen, wer hier besser spekuliert: Sind unsicher Gebundene doch eher Opfer einer tendenziell beziehungsunfähigen Mutter, deren Verhalten das Wachs der Weltrepräsentanz nicht gut zu prägen vermochte und einen Schalter hin zu "Bindungsstress" umlegt? Oder ist mit Lacan gesprochen der "Seinsmangel" ein Menschenschicksal, conditio humana, und somit das vermeintlich unsicher gebundene Streben gen Todeszone und Flausenhaftigkeit schlicht menschliche Normalität? Link zu Amazon
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Maren Lammers „Emotionsbezogene
Psychotherapie von Scham- und Schuldgefühlen" (2016) |
Léon Wurmser „Masken der
Scham“ (1981) |
466
Seiten, 8 Abbildungen, 17 Tabellen 13
Kapitel (189 Seiten zur Praxis, zentral 63) 119
Zusammenfassungen, 17 Exkurse 38
veranschaulichende Fallvignetten 8
Praxistipps, 13x Tipps zum „Vorgehen“ Materialsammlungen,
diverse Übungen (acht davon auch als code-geschütztes PDF, ebenso
Fragebögen, das Literaturverzeichnis
und Abbildungen). Kulturgeschichtlich vertiefend sind vier Beiträge von
Isgard Ohls. Leider
kein Personenverzeichnis. |
491
Seiten 16
Kapitel 14
Zusammenfassungen 19
veranschaulichende, teils mehrfach wiederaufgegriffene
Fallvignetten, plus Werkvignetten Weniger
„to-go“-artige Darreichung/ Manualisierung, stilistisch eher der „alten“
Garde einzuordnen, die bestrebt scheint, ohne
„Handbuch-Zugriffserleichterung“, abstrakt zur Geistesgeschichte
beizutragen. |
Integrativ-schulübergreifend (mit Nähe
zur Schematherapie). Micha Hilgers’ Buch zu Schamaffekten wird
gewürdigt und auch Wurmser zweimal
erwähnt. |
Psychodynamik (insbes. Anna Freud,
Otto Fenichel, Paul Gray) |
Basis von Scham und
Schuldgefühl sind mangelnde Chancen, Grundbedürfnisse (Bindung, Kontrolle, Selbstwert, Lust,
Konsistenz) zu befriedigen. Legt
sich diese Art Schatten über die Emotionen, sollte die Begutachtung der
psychischen Gesundheit nicht einfach den klassifizierenden Deskriptionen
folgen, sondern zunächst bei den grundlegenderen Bedürfnissen bleiben:
ohnehin liege Scham so gut wie allen psychiatrischen Krankheiten zugrunde. Eine
Ergänzung zum Ansetzen bei den Bedürfnissen: Der bekannten
psychoanalytischen Sexuierung von Objekten zufolge
würde diese Form einer Zentralisierung der Bedürfnisse damit
experimentieren, dem Befriediger irgendwo doch auch
vervollständigendes Medium zu sein: dies würde also eine ggfs. zuvor ganz und gar tabuisierte, im Repertoire also durchaus
wertvolle hysterische Haltung einüben. |
Basis der Scham sind Triebe und Konflikte, Erklärungsfluchten
in Borderline- und Psychosediagnosen erscheinen daher
meist überflüssig. Der
ohnehin Assoziationen und Basisstrukturen folgenden Psychoanalyse verleiht der
Fokus auf die Scham somit eine weitere Blickschärfung: bei
Konfrontation mit den Anzeichen, den „Masken der Scham“ sollte
man mehr noch als sonst auf das individuelle Maß des
„gestatteten“ Überich-Nahetretens
achten. Von
Anfang an beim Zuviel und Zuwenig des Blicks als sexuiertem
Sonderobjekt anzusetzen ist ein direkterer Zugriff auf die Scham. Im
Übermaß zeigte sie sich eher in Machtspielchen als in der
klassisch „machohaften“ Höhepunktsuche. Die Arbeit auf
dieser Ebene, die ein Genug des Guten (bzgl. des Blickfetischs) justieren
will, wäre vor diesem Hintergrund Arbeit an perversen Zügen. |
Empathie im Zentrum: Mentalisierung,
kognitives Sich-in-den-anderen-Versetzen und
emotionales Mitschwingen ist Basis von Schuld- und Schamgefühlen, Spiegelneuronen
programmieren uns, „menschlicher Resonanzboden“ eines
„gemeinsamen Vielfachen“ sein zu wollen. |
Empathie im Zentrum: Scham
erfordert mehr als sonst Zeichen, dass das Individuum als solches gesehen
wird: therapeutisch und überhaupt zwischenmenschlich sollte der
Analytiker daher taktvoll sein, analytisch intelligent und neugierig. |
Schuldgefühl ist eine soziale
Basisemotion, die attribuiert (Ursache bzw.
„Verursacher“ zuschreibt), und die Kognitionen mit Appellen
fusionierend so lange in Geiselhaft nimmt, bis das Anderenverhältnis
geprüft ist. So feilt der Gewissensbiss mittels kontrafaktischem
Denken („Was wäre, wenn ich es anders gemacht hätte?“)
durchaus positiv an der Sozialkompetenz. |
Schuldgefühl – es wird erwähnt,
aber nicht ausdifferenziert. Vielleicht im Wissen, dass diesem in den diversen
Überich-Diskursen der Psychoanalyse reichlich
Diskussionen gewidmet sind. |
Scham aktiviert in stark
kultureller Abhängigkeit die Selbstregulierung, positiviert
Würde und eigene Grenzen – ist „Freuds blinder Fleck“.
Nach der einschlägigen Unterscheidung von Helen Lewis 1971 betrifft sie -
den Blick auf die Schuld teils gar verstellend – immer die ganze Person,
kein je wiedergutzumachendes Fehlverhalten. Scham
will als Signal gehört werden und kann dann im besten Sinne eine
„Lehre“ sein. Sie hat aber auch eine Generalisierungstendenz, die
krankheitsanstoßend wirkt (dann als
„sekundär“ angesprochen). |
Scham tritt inkognito auf.
„Hauptmasken“:
Depersonalisierung, Depression, passagere
Essstörungen oder Denkstörungen. Scham ist abfällig formuliert
meist verhüllte Narzissmus-Begleiterin, resultierend in Schamangst
(Hemmung), eigentlicher Scham und/oder Charakterpanzer (Haltung). Bei ersteren
gibt es noch klarer ein Vor-etwas und ein nicht mal
vor sich selbst haltmachendes Vor-jemandem (sich
schämen). Eigentlich ist sie aber ein Schneckenhaus-artiger Schutz der
Fähigkeit zu wahrer Liebe: im Loslassen, im Gewähren schutzfreier
Momente wirkt sie als Sublimierungsmotor. |
Schamlosigkeit ist auch vom stets mitreifenden
Blick auf sich abhängig. Sich schamfreie Zonen zu schaffen ist normal,
es gibt aber eine Grenze zum Schädigenden und Pathologischen. |
Schamlosigkeit/Coolness ist die
dialektische Kehrseite, die eine Wiederkehr des Verdrängten fördert,
mit der Lustquelle des Loslassens nur spielt. |
Technik: wichtig sei, dass
der Therapeut sich mit eigener Schuld und Scham auseinandergesetzt hat und
eine reflektierte, „verstehende“ Haltung kultiviert, spezifische schamabbauende „Ziele“ im Hinterkopf hat. Auch
schamspezifische Psychoedukation kann wichtig sein,
später geht es dann um Zugänge zu Emotionen allgemein, spezifisch zu
Schuld und Scham, und noch tiefer greifend zu unterstellt schamgenerierenden,
verschütteten Bedürfnissen (diverse mehrschrittige
Manuale wollen hier dem Therapeuten helfen). Allgemein
gilt es Ressourcen zu nutzen und geschickt mit dem angenommenen „emotionsphobischen Konflikt“ umzugehen. Dies
gelingt zum Beispiel durch eine hypnotherapeutische
Personifizierung der Scham oder durch den Aufbau eines inneren Gegenspielers.
Auch hilft es, kindlichen Kognitionen eine Stimme zu verleihen, wo es dem
Klienten schwerfällt, stellvertretend Verantwortung für den alles
nur verschlimmernden Rückzug bzw. die Trotzhaltung zu übernehmen
– alle dies im Dienste einer nachträglichen
Bedürfnisbefriedigung (man wird gewissermaßen
„Detektiv“ fürs Aufspüren der wahren Bedürfnisse). |
Technik: um belehrende
Gegenübertragung zu minimieren, sollte man sich selbst und seine Scham gut
kennen. In
der Arbeit mit dem Patienten an der Oberfläche beginnen, zunächst
Abwehrmechanismen vor dem Konfliktinhalt beachten, dabei v.a.
auf ein Zulassen der Beobachterlust und Selbstdarstellerlust achten (ob sich
das Gegenüber gleichsam wie in „Peepshows“ begibt oder
selbst zeigt, schwächer: sich im Boulevard und Alltagstratsch suhlt), und dabei die typischen
Kaschierungsstrategien kennen. Alsbald
auch Überlegungen anstellen, wie sich der „Schamriss“ in der
Subjektarchitektonik wohl kitten lässt: wie einen beschädigten
Brückenkopf nur lokal stützen, oder die ganze Konstruktion neu
ausrichten? Scham
wird hier v.a. metaphorisiert als Angst vor dem
bösen Blick, daher müsse der psychodynamische Scharfsinn mit einer
Scham vor der Ein-Sicht rechnen. Training:
systematisch bei sich und dem Patienten zwischen induzierter Schamanflutung
und ihrer Analyse wechseln. Idealerweise gar eine Art Transzendenzerfahrung
initiieren, wie es großer Kunst gelingt: nicht für eine „Regression“,
sondern für „Magie im Dienste des Ich“. |
Fazit: je stärker die
Scham, desto mehr soll man davon ausgehen, dass vor allem früh im Leben Objekte
(Personen, Zuneigungen, Handlungen) gefehlt haben. Dies später zu
„sehen“ und dabei das Sehen sehr verständnisvoll wieder zu
trainieren ist besser als immer wieder wegzuschauen… |
Fazit: das Triebleben eindämmende
Verbote sollen besonders leicht in nicht klar herzeigbare Konflikte
stürzen. Solange der Mensch aber doch irgendwie seinen Phantasien
entsprechend schauen und sich zeigen will, hilft reflektierte, gut getimte
und dann magisch geteilte „Erlaubnis“ weiter… |