Auf- und Ausgelesenes
![]() LektüreempfehlungenScience fiction oder die Lösung des schweren und des ganz schweren Bewusstseinspropblems?Hatte nicht gerade 2023, kurz nach der Veröffentlichung von Solms zur «übersehenen Quelle des Bewusstseins», der Philosoph David Chalmers sich den Wettgewinn, eine Kiste besten Rotweins, eingestrichen? Denn auch nach 25 Jahren (1998 wettete er mit dem Neuropsychologen Christof Koch) hat die Wissenschaft des Gehirns noch keine schlüssige Erklärung für das subjektive Erleben von Bewusstsein: https://www.youtube.com/watch?v=plJXi54lp8c – gesucht werden ja klar benennbare NCCs, also «Neuronal Correlates of Consciousness”, die kleinste Einheit an neuralen Ereignissen und Strukturen, die es braucht für bewusstes Wahrnehmen/Erinnern. Einer der führenden Neurowissenschaftlier, Mark Solms, sieht es anders. Gerne und vielfach lässt er Chalmers daher zu Wort kommen – um ihn dann doch übertrumpfen zu können… Man sollte hinzufügen, dass Vieles hier Definitionssache ist: Auch eine australisch-englische Kooperation unter Andrew Barron schaut sich evolutionstheoretisch fünf Stufen von Hirnkompetenzen an: 1) Ein Nervensystem (Quallen), 2) ein sinnenkoordinierendes Nervensystem (Würmer), 3) ein Nervensystem mit Rückkopplung aka »Hirn» (Bienen), 4) ein Hirn mit mehreren Feedbacksystemen (Vögel, Hunde), 5) ein schlussfolgerndes Hirn (der Mensch) und meint, der Lösung auf der Spur zu sein. Aber folgen wir den Ansichten und der Kapitelaufteilung Solms`: 1. Der Stoff, aus dem Träume sind Solms blickt zurück in Zeiten als die Neurowissenschaft wie selbstverständlich die subjektive Erfahrung ausblendete und entsprechend Trauminhalte als akzidentelles, unwichtiges Extra nächtlicher Hirnaktivitätsgewitter ansah. In seiner Dissertation von 1980 fordert er seine Wissenschaftskollegen auf, «Freud Abbitte zu leisten» und lokalisiert Wünsche und Wunschträume im mesolimbisch-mesokortikalen Dopamin-Schaltkreis (Rolls nennt es «Belohnungssystem», Berridge «Wollen», Panksepp «SEEKING-System»). 2. Vor und nach Freud 1987 entscheidet sich Solms, sich parallel zum Psychoanalytiker ausbilden zu lassen, auch wenn ihn Kollegen warnten, dass sei so seriös wie ein sich zur Astrologie bekennender Astronom. Freud sei ja wie Brücke ein «Physikalist» gewesen, aber ohne Chance auf Sichtbarmachung der trieblichen Arbeitsanforderungen. Heute aber gäbe es Hirn-Scans, die belegen, wie das subjektive Erleben von Bewusstsein (manifeste/explizite/deklarative Phänomene) sich gründet auf unbewusste Ursachen (implizite/nicht-deklarative Phänomene). Diese bilden auf Gefühlsebene oft einen Widerstand gegen ihr Bewusstmachen. Beispiel Korsakoff-Konfabulation, Übertragung als echt, z.B. fremde Situation sich als „vertraut“ wünschen (Solms-Interpretation). Gegen Freud: „Sitz des Bewusstseins“ ist nicht die Oberfläche der Hirnrinde, umgekehrt: „Es“ ist Kortex, (stets) bewusste Gefühle sind im Hirnstamm und Hypothalamus 3. Der kortikale Trugschluss Empiristen wie Locke oder Hume, die meisten Neurowissenschaftler und auch Freud situieren das Bewusstsein im Kortex, der Oberfläche der Hirnrinde. Dies, so Solms, sei allerdings falsch. Quelle des Bewusstseins seien vielmehr die zum Unbewusstsein unfähigen Gefühle, wie sie im «körperlichen», im subkortikalen Hirnstamm und im Hypothalamus zu finden sind (Läsionen in diesem Bereich führen etwa zu Hermann Munks «Seelenblindheit»). Weitere Argumente: Korsakoff-Konfabulatoren sind emotional voll da, ebenso hydranenzephalische, also kortexlos geborene Kinder (Solms zitiert hier die Studien des hochgelobten Björn Merker). 4. Was wird erlebt? Solms ist davon überzeugt, dass eigentlich die von den Neurowissenschaften ignorierten Gefühle das Erleben von Bewusstsein und Freiheit ausmachen (sie nämlich senden, wie Freud es 1895 in Bezug auf Triebe wie Hunger oder Durst nannte, „Arbeitsanforderungen“ an die Psyche). 5. Gefühle Solms zitiert verschiedene Klassifizierungen von Gefühlen, favorisiert dabei aber die Einteilung des von ihm verehrten (und per Widmung adressierten) Jaak Panksepp. Dieser unterscheidet interozeptive, exterozeptive und emotionale Affekte. Letztere haben eigene, insgesamt priorisierte Hirnkreisläufe, die bei Angeschaltetsein so etwas wie „Bewusstsein“ nach sich ziehen: LUST, SEEKING, RAGE, FEAR, PANIC/GRIEF, CARE, PLAY (das gedankliche Umherschweifen aka SEEKING als default). 6. Die Quelle Wo nun ist der Ort des Bewusstseins? Solms lokalisert den Kipp-Punkt von bloss vegetativer Wachheit hin zu affektivem Arousal im „periaquäduktalen Grau“ (PAG), zwischen Vorderhirn und der von ihm sogenannten „verborgenen Quelle“: dem die entscheidenden Priorisierungen vornehmenden retikulären Hirnstamm. Dieser enthält auch so etwas wie die grundlegenden Denk- und Handlungsmuster in Form des Langzeitgedächtnisses, das auch bei den meisten Berechnungen der Gegenwart eine Rolle spielt. Dieser Stamm ist Zielhafen der Transmitter Dopamin, Noradrenalin, Azetylcholin, Serotonin und Histamin (auch nach der binär – go/nogo – ablaufenden Informationsübergabe gibt es noch Bewusstsein-Relevantes: die Erfolgsprüfung läuft viel weiter gestreut über modular funktionierende postsynaptische Moleküle). 7. Das Prinzip der freien Energie Als wichtigen Gewährsmann zitiert Solms seinen Kollegen Karl Friston: mit dessen Studien lässt sich behaupten, dass Freuds Triebtheorie mit dem Prinzip der freien Energie übereinkommt. Die Formel für die „Friston-Energie“: A=U-TS. So etwas wie eine Durchschnittsenergie (Erwartung) minus Unerwartetes/Entropie (faktisches Vorkommnis) ergibt eine bayesianisch berechenbare Differenz. Und das immer wieder, und zwar nach dem Prinzip der Homöostase: Rezeptor, Kontrollzentrum, Effektor. Der Mensch als Hypothesenmaschine hat Triebe (inkl. Freuds Idee ihrer „Arbeitsanforderung“), um faktische (auch traumatische) Vorkommnisse in die Erwartungen einzubeziehen. Wo für den zeitweilig auch informationstheoretisch inspirierten Lacan Signifikanten die subjektive Realität repräsentieren, so ähnlich zeigt auch eine windschiefe Gestalt das Wachsen anhand von Erfahrung, von Traumata: Solms nennt als Beispiel die Neigung der Bäume als Repräsentanz der typischen Windrichtung. 8. Eine prädiktive Hierarchie Vom autonomem Reflex zum Instinkt, vom nicht-deklarativem zum deklarativem Langzeitgedächtnis und schliesslich zum Kurzzeitgedächtnis. Wie bildet sich eine individuelle Vorhersagemaschine, ein Einzelmensch: a) aus der Aussenwelt Unwichtiges wegfiltern, allein auf das irgendwo noch „Unerwartete“ fokusieren, es stellt das jeweilige lebendige Bewusstsein dar (Ich als Abwehr), b) innen herrscht Generalisierung, aussen gilt alles als flüchtig, c) dies reicht aber fürs Selbstupdate, d) dieses informiert die neue Wahrnehmung, die also im Unterschied zum Lernen von Innen nach Aussen verläuft. Solms hat eine hohe Dichte an Thesen, die er teils argumentativ erläutert, teils wie unter der Hand miteinstreut… 9. Warum und wie Bewusstsein auftaucht Bewusstsein ergibt sich also aus (Not-)Signalen überlebensnotwendiger Affekte und manifestiert sich in der Form von Vorhersagen wie auch der Präzisierung jener Vorhersagen. Es dient der Bildung einer stabilen Weltsicht, arbeitet also zugleich an der Minimierung freier Energie. Dazu bleiben prinzipiell drei Herangehensweisen: a) das Agieren gemäss der Erwartungen, b) das Verändern der Erwartungen (nach Erwartungsenttäuschung), c) die Präzisierung der Erwartungen. Also wie eine „Markov-Decke“… 10. Zurück zum Kortex Für Solms wird bewusst, was nicht der Erwartung entspricht, was dann im Anschluss zu der von Freud erkannten und zuletzt (2015) von Bruce Ecker zur Therapieform entwickelten „Erinnerungsrekonsolidierung“ führt, einer auch im Traum stattfindenden Korrektur des umherschweifenden SEEKING-Denkautomatismus. Volles Bewusstsein ist hier die willentliche Imagination, der kurze Wechsel in die Metaposition des PLAY, ins Meinigkeit spüren statt (Denk-)Handeln. Der Flow, genauso wie das zwanghafte Gedankenkreiseln stehen dagegen für Konsolidierung, für eine Stabilisierung des nicht-deklarativen Gedächtnisses (Reaktion statt Bilder, subkortikal statt kortikal). 11. Das schwierige Problem (nicht Teil der Wette: hard problem, auch das subjektive Erleben zu erklären) DNS-Entdecker Francis Crick nennt das bewusste Ich eine Nervenzellansammlung (deren Kognitionen auch funktional gut erklärbar wären). Und darüber hinaus? Der Philosoph John Locke dachte über ein «invertiertes Spektrum» nach, bei dem jemand anderes mein Blau als ein Rot erleben könnte. Hier ist nun das noch schwierigere, aber eigentliche Wunder des des Bewusstseins angesprochen. Chalmers vermutet bei der Subjektivität- bzw. Geistverursachung das Prinzip «struktureller Kohärenz» am Werk, Informationen wie etwa jene zum Erleben von Farben würden subjektiv gedoppelt (als wäre Süße den Molekülen von Glukose inhärent). Solms schliesst auch hier wieder, dass daher dopplungsfähige Phänomene, prototypisch also Gefühle die Grundform des Bewusstseins darstellen müssen. 12 Künstliches Bewusstsein entwickeln Für Solms ist das Bewusstsein je schon ein Affekt im Hirnstamm, der im Verlauf der Evolution mehr und mehr auch von den Subjekten als solcher gefühlt werden konnte. Der beim Menschen für die höheren geistigen Funktionen (und eben das Bewusstsein) verantwortlich gehaltene Kortex verhalf daher lediglich zur zusätzlichen Fähigkeit, Affekte exterozeptiv zu kontextualisieren und zu erinnern. Chalmers Bewusstseins-Prinzipien: a) strukturelle Kohärenz, b) subjektive Informationsdopplung, c) organisatorische Invarianz könnten in Zukunft auch mit Silizium, als KI, nachgebaut werden – gelingt dies, müsste man auch der KI (beziehungsweise dem küsntlichen Affekt) Bewusstseinserfahrung zusprechen. Solms rührt Neurowissenschaft, Bewusstseinsphilsophie und KI zusammen und stellt unter der Hand sehr weitreichende Thesen auf. Dabei kommt sein Buch durchaus wissenschaftsjournalistisch daher, bringt persönliche Anekdoten zur Forschungsmotivation genauso wie griffige Analogien. Darunter versteckt sich aber ein wahres Monster an wissenschaftliches Tiefe. Es kann gut sein, dass man in eine paar Jahren auf das Buch als Klassiker verweist, als Leser hätte ich mir jedoch anstelle der (wie unter Zeitdruck, der Erste sein zu wollen) mitangebotenen Lösung des harten Problems und der Vorschläge zum Silikonnachbau von Bewusstsein mehr Erläuterungen vor allem zur Analogie von Informationswissenschaft und Arbeitsweise des Gehirns gewünscht. Ohne Vorverständnis in den genannten Disziplinen klingt das alles sehr smart, es wird aber schwer nachvollziehbar sein, wie nah man einer «künstlichen Affektivität» (nicht Affektiertheit freilich) ist, wo selbst Fragen danach, ob Alpträume auch Erinnerungsrekonsolidierung sind, offen bleiben… Link zu Amazon Zur Struktur hinter dem KonfliktIn Deutschland kann die SP stolz auf ihre Zulassung sowohl als Verfahren der Psychoanalyse als auch der daraus abgeleiteten, problemfokussierteren tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie verweisen. Der Autor, Gerd Rudolf, war zuvor langjährig Mitentwickler der OPD (Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik), einer Fragebogen-Empirie, die mittlerweile gut beforscht und erwiesenermassen valide ist, aber doch möglicherweise den Erfinder beziehungsbasierter Redekur, Sigmund Freud, überrascht hätte. Wo Konflikte sich klassisch im Gespräch, in den sogenannten Übertragungen von Altlasten zeigen, hat die aus der OPD erwachsene „strukturbezogene Psychotherapie“ eine zupackende Erfassung und Bearbeitung der psychischen Struktur vor Augen. Worin genau sich Struktur (in extremis auffällig v.a. in den Persönlichkeitsstörungen) und Konflikt unterscheiden, wird nicht immer klar – das wird gerade an den Stellen deutlich, die bemüht sind, die Singularität der Strukturarbeit herauszustellen. Fest steht: wo frühe Störungen vorliegen oder traumatische Ereignisse die Struktur zerrütten, da hilft nicht die klassische «intellektuelle» Deutung, um auf eigensinnige Verarbeitungsmuster hinzuweisen, da hilft eher Beziehungsarbeit, gern werden gemeinsame Ziele ausgehandelt. Wie in der neuen ICD-11 in Bezug auf die Persönlichkeitsstörungen, so differenziert auf die SP Integrationsniveaus der Selbst-Defizite zwischen „gut“ und „desintegriert“. Link zu Amazon Drei Karotten, fünf Kartoffeln, eine Zwiebel, Apfelsaft...ADHS im Erwachsenenalter. Symptome - Differenzialdiagnose - Therapie (Schattauer 2021, 4. Auflage) Klinisch zum Thema wurden in den 1960ern zuerst die extravertierten "Zappelphilippe", die ja auch alles zu tun scheinen, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Und dies waren tatsächlich mehrheitlich Jungs, die mit ihrem schillernden Verhalten naturgemäß Reaktionen und eben auch Diagnosen provozierten - das Missverständnis der sogenannten „Androtropie“, des Jungs-Überhangs. Ab den 1970ern und 80ern kamen allgemeiner Kinder und Jugendliche mit Aufmerksamkeitsdefiziten (AD) ins Blickfeld, zum Beispiel auch die eigentlich größere Untergruppe (30%) der leicht ablenkbaren "Themenhüpfer" (man erinnere sich an den Hund "Dug" aus dem Pixar-Film Up), die in Reinform durchaus häufiger zu finden sind als jene mit der auffälligeren Hyperaktivitäts-Störung (HS, 10%). Meistens (zu 60%) hat man es ohnehin mit einem Mischtypus zu tun, mit dem sich dann auch die Kürzel zur bekannten Aufmerksamkeits-Defizit/Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) aufaddieren. Genau genommen sollte man vom "Themenhüpfer"-Typus noch den stark introvertierten Hans (und die Hanna) Guck-in-die-Luft unterscheiden, die wie das Bürokraten-Faultier Flash aus Zoomania lange brauchen, sich überhaupt etwas zuzuwenden, darüberhinaus auch unter Brainfog leiden, chaotisch planen und oft ein Gedächtnis wie ein Sieb haben. Diese Hardcore-Tagträumer gelten allerdings bisher noch nicht als eigenständige Störung. Klinisch werden sie als "nicht näher bezeichnete ADHS" rubriziert, dabei hat der US-Psychiater Russell Barkley bereits 1984 einen Namen gefunden: "SCT". Also die, die schluffig mit "sluggish cognitive tempo" unterwegs sind. Sie finden sich zu 30% unter den ADHSlern, v.a. unter den Themenhüpfern, kommen aber auch ohne ADHS vor (und sind insbesondere zu unterscheiden von der schizoiden Persönlichkeit). Ganz offensichtlich ohne "H", aber mental dafür besonders schlaff und schläfrig. Auch Ü20 fügen sich ADHS-Betroffene einerseits mit ihrer „verhaltens-kreativen“ Art gerade beruflich nicht leicht in vorgegebene Raster, sind andererseits oft im besten Sinne weniger oberflächliche, „querdenkerisch-kreative“ Persönlichkeiten, die jene althergebrachten Raster auch mal aufzusprengen vermögen. Der Zeitgeist fordert zwar Anpassung und quält damit die ADHS-"Abweichler", feiert aber ebenso jene unter ihnen, die es geschafft haben: Früher waren es wohl Da Vinci, Mozart oder Einstein, heute Kurt Cobain, Ingvar Kamprad, Emma Watson oder Justin Bieber - ADHS Deutschland e.V. nennt es frech die „hipste Störung“ überhaupt. Und ja: positiv gewendet imponieren bei ADHSlern nicht selten Hyperkonzentration, Energie, Risikobereitschaft, Leidenschaft und Phantasie. Ungereimt - aber keine Ausnahme in der Psychiatrie - scheint auch, dass bei Unsicherheiten in der Diagnosestellung eine untypisch fokussierende Wirkung nach Gabe von aufputschenden Medikamenten geradezu als Beleg für das Vorliegen der ADHS gelten kann. Und tatsächlich versichert die Forschung, dass Metylphenidad (MPH) und Co. meist vor Schlimmerem bewahren, gar „Normalität“ ermöglichen. Betroffene sollten es also zumindest nicht scheuen aus Angst vor Nebenwirkungen, eher ist es nachvollziehbar, wenn sie befürchten, sich so ihr „Lebensbenzin“ auszutrocknen. Die Hypothese des organischen Schicksals einer neuronalen Entwicklungsstörung mit nur bedingten mentalen Korrekturmöglichkeiten konnte durch bildgebende Verfahren bestätigt werden. Auch Freud, dessen Psychoanalyse sich seit 1900 um besonders rasiermesserscharfe mental-kategoriale Einordnungen kümmert, nannte die ADHS avant la lettre eine „organische Eigentümlichkeit“, mitunter durchaus ödipal motiviert, aber zu selten, um die typischen psychoanalytischen Interventionen an unbewussten Persönlichkeitsaufhängungen für sie fruchtbar zu machen (Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 1917). Man ist weitgehend so geboren, denkt sich nicht nur so oder ist eigentlich ganz anders. Und: man hat es wahrscheinlich - die noch besonders erklärungsbedürftige Spätmanifestationen als Ausnahme zur Regel - geerbt. Auch wenn die eigenen Eltern dies gern leugnen... Unklar bleibt, wie und zu welchem Anteil Probleme während der Schwangerschaft bzw. zwischenmenschlicher Stress während der ersten Lebensjahre die ADHS erst so richtig hervorbringen und verstärken (dass doch Probleme in der vorgeburtlichen und dann frühen Interaktion mit zu wenig zusammen geteilter Aufmerksamkeit auf etwas Drittes grundlegender als das genetische Erbe sind, vertritt eher als psychoanalyse-affine Einzelmeinung der Neurobiologe Gerald Hüther). Somit ist die ADHS ursächlich v.a. ein hirnphysiologischer Befund, so sehr auch für den Patienten der Weg zur Diagnose nur über eine hochdifferenzierte Beurteilung der psychischen Auswirkungen erfolgen kann. In der Nachfolge Freuds spekulierten die Psychoanalytiker, ob die ADHS so zu verstehen sei, dass hier wiederum speziell Jungs aus früh erlebtem Übermaß an Mutternähe herausflüchten müssen und dann fatalerweise in dieser Fluchtbewegung hängenbleiben. 1944 präzisiert Margaret Mahler diesen Gedanken als ein Scheitern an der Entwicklungsaufgabe, Affekte (v.a. das frustrierte, selbstunsichere „innere Bewegtsein“) NICHT mehr wie ein Baby in motorische Bewegung übersetzen zu müssen: „Gefühlsinkontinenz“ nennt sie das. Ein Leben in einer beschleunigten "Metonymie des Begehrens", bei dem selbst dem Umfeld die klaffende Leere zwischen all den wechselnden Faszinationsobjekten geradezu plastisch vor Augen geführt wird... Fest steht, dass ADHSler "Aufmerksamkeit brauchen": mal in dem Sinne, dass zu viel Aufmerksamkeit und Betüddeltwerden zur "Mutterflucht" (und zur Gedankenflucht) führt und man sich sehnlichst den eigenen Fokus zurückwünscht, mal insofern Nähe und Beachtung fehlen und die hyperkinetische Unruhe quasi als Köder dient, um die Aufmerksamkeit anderer allererst zu erregen (leider können die ADHSler dann mit dem Fang nichts anfangen: als lehnten sie gerade an sich selbst ab, das Buch nach dem Cover beurteilt zu wissen). Mit dem französischen Freud-Remixer Lacan kann man auch ätiologisch überlegen, ob die ADHS bei aller vermeintlichen Enthemmung nicht doch auch der Hemmung ähnelt, also nach psychoanalytischer Lesart eigentlich gar kein Konflikte kompromisshaft darstellender Symptomverbund ist, sondern eher die Symptombildung recht kompromisslos vermeidet und Betroffene höchst moralisch immer wieder vor Ausführung einer Handlung (zu welcher der Mut fehlt) verunsichert werden und sich per depressiv anmutendem Gedankenabort wegducken. Die Organe, auch das Gehirn, wären hier gerade nicht einfach "ab Werk" aufmerksamkeitsdefizitär geliefert, sondern erst durchs unbewusste Sprachgesteuertsein aufs Innehalten und Anderesmachen programmiert. So oder so zeigt sich der Effekt an einem gewissermaßen dauerüberlasteten, gewissermaßen virenbefallenen „Random Access Memory“: Gerne werden in Schleifen ältere Anfragen und Bedenken beackert, während man wie auf dem Rummelplatz von jeder Kleinstsensation abgelenkt und doch nie wirklich parat für eigentlich ernstzunehmende Neuanfragen ist. Auf diese Weise fungiert die ADHS als Top-Beispiel für Hirnandersheit bzw. Neurodiversität. Weiterreichende, spezifischere mentale Probleme ergeben sich dann je nach Persönlichkeitsneigung, denn die ADHS fungiert sehr bald als "Drehscheibe“ zu anderen Störungen. Als "Typen" findet man dann etwa die Frustrierten, die Verletzlichen, die Irritierbaren, die Lustbefriediger, die Entmutigten, die Sorgenwälzer oder auch die Gelangweilten. Nimmt man, woran diagnostisch kein Weg vorbeiführt, an der ADHS vor allem die Abweichnungen bei den (angespannten/erschlafften) Kognitionen ins Visier, so liesse sich als normativer Kontrast die perfekt Probleme abarbeitende künstliche Intelligenz heranziehen, dergegenüber die „natürliche Dummheit“ gerade bei Aufmerksamkeitsdefiziten an Gehlens Mängelwesen erinnert, das halt erstmal Sinn braucht, um Aufgaben rational abzuarbeiten. Oder mit Kant: das nichts einfach mal nur mit interesselosem Wohlgefallen erblicken und schön finden kann. Als CEO in eigener Sache ist man also eher ein HEO: ein "Heiopei Executive Officer" (ADHS-Forscher Barkley nennt es "EFDD", eine "Executive Function Deficit Disorder" und unterstreicht: "Das Kernproblem liegt nicht im Langzeitgedächtnis, sondern im Arbeitsgedächtnis. Man vergisst nicht einfach Informationen und Fakten. Man vergisst, was man gerade tun wollte, was man eigentlich tun wollte, was das ursprüngliche Ziel war. ADHS zu haben ist insofern eher vergleichbar mit der Vergesslichkeit in den Wechseljahren oder im hohen Alter"). Nebst dem Arbeitsgedächtnis sind exekutiv beeinträchtigt das Go-/No-Go-System und die Reizfilter. Damit zusammenhängend aber auch die vorderen (innere Reize ordnenden) und hinteren (äussere Reize ordnenden) Aufmerksamkeitssysteme, die Emotionsregulation sowie die funktionalen Verbindungen in dem Dopamin- (interne Ordnung, Belohnungserwartung), dem Noradrenalin- (Stimmung, Fokus, Wachsamkeit), dem 5-HT- (Impulskontrolle, Schlafrhythmus, Schmerzempfinden, Appetit/sexueller Hunger) und dem GABA-Transmittersystem (körpereigenes Glutamat als Stresshemmer). Soweit zu meinen aus der Lektüre inspirierten Vorüberlegungen. Denn das bereits 2003 in erster Auflage erschienene Standardwerk der maßgeblichen deutschen Pionierautoren (treibende Kräfte für die weltweit ersten Leitlinien bzgl. Erwachsenen-ADHS) mit seinem breiten Panorama klinischer Forschungsergebnisse ist ein wahrer Fundus an Denkanstößen. Ein besonderes Highlight sind meiner Meinung nach die vielen Erfahrungsberichte, die Fleisch auf die szientifischen Knochen geben. Das Inhaltsverzeichnis zeigt, welche Themengebiete dabei abgedeckt werden. Es geht jeweils ausführlich um die… ... Historie: anekdotisch taucht die ADHS 1775 bei Melchior Adam Weickard auf („auf hundert Nebendinge springen … wie ein junger Franzose gegen einen gesetzten Engländer“), als einer der ersten Comic-Strips 1885 bei Heinrich Hoffmann aka Reimerich Kinderlieb und seinem von den Krauses dauerzitierten Struwwelpeter, fachlich versiert dann 1902 beim britischen Kinderarzt George Frederick Still, ... Verbreitung: ca. 4-20% unter Kindern und Jugendlichen, wovon später viele unauffälliger mit ihren Symptomen haushalten (etwa die Hyperaktivität weg von impulsiven Verhaltensweisen hin zu einer projektabarbeitenden „Multiaktivität“ kanalisieren) oder in andere Störungen "abwandern" - als diagnostizierbare ADHS-Erwachsene verbleiben zwischen 1 und 7%, ... Neurobiologie: das "Scatterbrain" kennt keine direkten biologischer Marker, aber heuristisch nennt das sogenannte Zwei- bzw. Drei-Wege-Modell (gemäß dem britischen Ex-Punker und Entwicklungspsychologen Edmund Sonuga-Barke) grundlegende Auffälligkeiten einer solchen "alternativen Hirnverdrahtung": Es zeigen sich fast immer Schwierigkeiten 1) bei den dorsolateral präfrontalkortikalen "kalt-exekutiven" Selbstregulierungsprozessen im Aufgabenabarbeiten, 2) bei der orbital/medial präfrontalkortikalen "heiß-exekutiven" Motivation - ein Allergischsein gegen jeden Aufschub der erwarteten Belohnung - sowie 3) bei der fronto-cerebellaren Zeitverarbeitung (in einen guten Flow kommen, Dinge auch kleinteilig zeitlich enordnen können, längere Zeiteinheiten erinnern), ... Diagnose: als mehrschrittige Längsschnitt- und Ausschlussbewertung sollte die AHDS mit einer SEHR langen Liste - Stichwort „Drehscheibe“ - anderer Krankheiten abgeglichen werden, die dann möglicherweise "nur" als Begleitstörungen zu werten sind: - Depression (begleitend bei ca. 30%, innerhalb der ADHS aber oft als Dysphorie - selektiv bei Desinteresse), - bipolare Störung (Cave! Bei ADHSlern sind es weniger klar abgrenzbare Perioden zwischen beflügelndem Hyperfokus in zu eigen gemachten Projekten und runterziehendem Hyperfokus aufs Scheitern), - Angststörungen (bis zu 50%), - Autismusspektrum-Störungen (ca. 40% und auch mit neuropathologischen Parallelen), - Zwangsstörungen (ca. 15%, psychodynamisch lässt sich hier an die erwähnte Hemmung denken, wie sie bei - auch nur vorsymptomatisch - zwangsneurotisch Strukturierten oft vorliegt), - PTBS (die ADHS-Zerstreutheit verstärkt sich), - Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten/antisoziale Persönlichkeitsstörung (bis zu 30%), - Substanzmissbrauch (über 50%, ohne ADHS konsumiert auf bedenkliche Weise nur etwa die Hälfte, populär sind v.a. THC, Stimulanzien und Kokain), - Borderline-Persönlichkeitsstörung (mit vielen Parallelen in sekundärer Symptomatik), - Tourette-Syndrom (31-86%), - Teilleistungsstörungen (eher bei Kindern, die weniger Talent zum Kaschieren haben), - Schlafstörungen (sehr häufig, auch wegen häufiger, B-Society-artiger anderer innerer Uhr und dem Aufleben in stilleren Stunden), - Hourding (28% der Messies haben ADHS), - Fibromyalgie/Chronic Fatigue Syndrom und Migräne (die Neurotransmitter-Störungen sensibilisieren die Schmerzwahrnehmung), Herausgreifen könnte man z.B. die depressive Verarbeitsungsweise, zu der hin gemäß dem inhaltlich differenzierenden Züricher Psychiater Heiner Lachenmeier ADHSler ohnehin tendieren, und die Borderline-Störung, die ja einst auch vor-symptomatisch das uneindeutige Grenzgebiet zwischen Verdrängung und Verwerfung bezeichnete. … Symptome: Allgemein (wie bei den Kids): - Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen (Ausfälle in der "Metakognition", also häufiges Abtauchen in den Kaninchenbau, in dem man dann viel, sehr viel Zeit verbringen kann. Was Pros und Cons hat: leichte „Ablenkbarkeit“ bzw. „Reizoffenheit“ kann dazu führen, dass man viel Zeit im Untergrund herumirrt, aber auch dazu, dass man dort per „Hyperfokus“ Tiefenfunde macht, welche die Oberflächen-Normalos mit offenem Mund oben vorm Eingang zum Bau zurücklassen. Auch wenn diese Fähigkeit zum besonderen Zoom manchmal schwer vom Grübeln oder persevierenden Zwangsdenken abzugrenzen ist, sie zeigt den ADHSler als äußerst leistungsfähig, mithin so gar nicht dem Image eines Halodris entsprechend), - Hyperaktivität (Ausfälle bei der gutartigen Hemmung: bei Erwachsenen v.a. als innere Unruhe), - Impulsivität (Reinreden, schnell "Zuviel-Bekommen", unüberlegte Spontanhandlungen - speziell in der Zusatzdiagnose des "gestörten Sozialverhaltens"). Zusätzlich nach den "Wender-Utah-Kriterien" (1971 in Utah vom Psychiater Paul H. Wender, der dann in den 1990ern Erwachsenen-ADHS plausibel machte, erdacht): - Desorganisation, - emotionale Inkontinenz: niedrige Frustrationstoleranz, Jähzorn, abrupte Stimmungsverdunklung (in Konsequenz führt diese Art der Mitautorenschaft an der eigenen Biographie zu viel verbrannter Erde und oft zu ebenso vielen Neuorientierungen, fallen entsprechend häufige Job- und Partnerwechsel auf). Zusätzlich nach Krause & Krause: - Selbstwertproblematik, - extreme Hektik und Ungeduld ("die Hummeln haben" oder umgekehrt, nach abgestossenen Hörnern, die Verwandlung in eine „Schlaftablette“), - Logorrhö/Labertaschenhaftigkeit. … gängigen Therapieformen: v.a. das notorische Ritalin (wegen "Rita", der Frau des Schweizer Chemikers Leandro Panizzon, dessen Privatexperiment 1944 ihr Tennisspiel deutlich verbessert haben soll) und anderen ja paradoxerweise sonst aufputschenden Mitteln. Selten kann eine Krankheit so schnell behoben werden, ein Drifter auf Kurs gebracht werden wie bei der ADHS, selten aber auch wird so hartnäckig von Betroffenen und Angehörigen das Leben oder die Begleitkrankheit verantwortlich gemacht, müssen dann unglücklicherweise THC oder Kokain ersatzweise zur Korrektur herhalten. Eine Totalisierung medikamentöser Symptombekämpfung ist zu vermeiden, weshalb ein multimodales Setting inkl. Selbsthilfegruppen, Psychoedukation, Verhaltens- oder Psychotherapie (auch in Paarung mit nahen Angehörigen) zu empfehlen ist. Abgerundet wird das 460 Seiten starke Kompendium durch zwei hilfreiche Anhänge: ein semistrukturiertes Interview und die Leitlinien auf der Basis eines Expertenkonsensus. Link zu Amazon Innere Polizei- und SeelsorgearbeitDer auch theologisch informierte Diplompsychologe Roland Kachler ist ein erfahrener Autor, der sich mit dem Thema der „Komplextraumata“ nun an Therapeuten wendet, die Menschen nach mehrfachen menschverursachten Schocks (nicht nur einem einzelnen Riesen-Horror) helfen möchten. Diese Diagnose ist erst seit dem ICD 11 diagnostizierbar, abgegrenzt von der teils ähnlichen Borderline-Persönlichkeit ab. Kachler hält sich nicht lange mit theoretischen Grundlagen auf (ohnehin scheint in der Traumatherapie, etwa auch das EMDR oder die kleinschrittige Titration, oft nach dem Prinzip „was hilft hat Recht“ zu funktionieren) und setzt voraus, dass sich Therapeut wie auch Patient ohne weiteres auf die Analogie eines Eindringlings ins psychische Haus einlassen können. Wie so oft bei Einordnungsschwierigkeiten kann hier zunächst zur Orientierung ein Blick auf die erkenntnistheoretische Grundlagen mitdenkende Psychoanalyse weiterhelfen: Der frühe Freud zumindest meinte vom neurotischen Symptom (und auch sehr ähnlich vom Trauma), dass es beim Kind eine Überwältigung/Überforderung gibt, auf die hin allgemein menschliche, wie spezifisch individuelle (neurotische) Abwehrmechanismen in Gang gesetzt werden. 1896, noch zusammen mit Josef Breier, theoretisiert Freud anhand des Falls der „hysterischen Emma“, dass sie - bevor sie wissen konnte, was das bedeutet - von einem Ladeninhaber „verführt“ wurde und dann mit einer Phobie vor Geschäften darauf reagierte. Schon 1897 verwirft Freud seine Verführungstheorie (=erst reale Übergriffe führen zum Trauma/zur Neurose), und spätestens 1905 ersetzt er sie durch eine Art „VerführungsEINBILDUNGstheorie“ (der Mensch allgemein trägt schon strukturell in sich die Veranlagung, frühe Triebregungen phantasmatisch aufzuladen und sie v.a. nach späterer „Aufklärung“ unbewusst umzudeuten oder in neurotische Eigenheiten zu konvertieren). Diese beiden Varianten der Traumaverursachung ähneln nach einer typisch weit hergeholten Assoziation Zizeks Einsteins Move von der speziellen zur allgemeinen Relativitätstheorie (von Krümmung des reinen Vakuuum-Raumes erst durch das Hinzutreten von Materie hin zu einem je schon „gekrümmten“ [analog „traumatisierten“] Raum). Zurück zur erwähnten psychoanalytischen Idee der Nachträglichkeit/Retroaktivität. Eigentlich ist diese auch Blaupause der heutigen PTBS: 1) ein äußeres Schockereignis 2) … mit sexueller/letaler Potenz 3) … und Rätsel- bzw. Überwältigungscharakter im Moment des Erlebens 4) muss erst verdrängt werden und kehrt später, also „nachträglich“ als nicht abreagierbares, fossilisiertes Symptom wieder… Auch der Freud-Renovierer Lacan bekennt sich zu einer dem intuitiven Alltagsverständnis widerstrebenden Kausalitätsauffassung. Wen Details interessieren: Schon in seinem 1946er Artikel „Vortrag über psychische Kausalität“ attackiert er den simplen „A löst B aus“-Determinismus (des immerhin eine ihm nahe stehende dynamische Psychiatrie vertretenden Henri Ey), im 11. Seminar unterscheidet er dann mit Aristoteles zwischen automaton und tuché (trou-matische Löcher in symbolischen Automatismen ) und in seinem 15. Seminar schließlich kontrastiert er die Reflexe von Pawlows Hunden (und selbst den wissenschaftlichen Reflex von Pawlow auf jene) mit Caesars schicksalshafter Entscheidung, den Rubikon zu überschreiten. Darüberhinaus philosophiert Lacan aber tiefer als Freud über eine dem Menschen „wesenhafte“ Erklärung des Traumas: Der Mensch sei Mangelwesen bereits durch die „Kastration“ der Sprache bzw. des Denkens, welche jegliche Unmittelbarkeit verhindere und z.B. das Wollen nur noch „nachträglich“ zu rekonstruieren erlaubt. Wie bei Einsteins allgemeiner Raumkrümmung gibt es hier also ein allgemeines Trauma schon vor und unabhängig von einem Schicksalsschlag oder einer tiefen Demütigung. Dieses permanente Rekonstruieren der Absicht findet sich letztlich auch im ständigen Denken/Hantieren mit einer mensch-exklusiven Wahrheit, ein Rückgriff, der es allererst erlaubt, auf das traumatische, radikal andere einer „bösen“ Absicht zu stoßen. Sofern es stimmt - so eine weitere psychoanalytische Grundthese -, dass man immerzu etwas „denkt“ und mit diesem impliziten Rückschluss auch immer etwas „will“, selbst im Schlaf (merklich im Traum mit der alternativen Bildersprache des Films), so fragt sich also, von welchem Alp man in welche Realität aufwacht. Anders gesagt: Was ist traumatischer, was ist härter, die geteilte Realität (wie sie etwa die „harte“ [Natur-]Wissenschaft als ihr Objekt braucht) oder die private, letztlich träumerische Wahrheit? Verhandelt wird diese erkenntnistheoretische Frage nach der richtigen Verortung des Traumas in der Psychoanalyse unter dem Stichwort „Vater, siehst du nicht, dass ich brenne?“ Diese Anklage geht zurück auf einen klassischen, x-fach diskutierten Traum eines Patienten von Freud, den jener pikanterweise während der Toten-WACHE für seinen verlorenen Sohn träumte. Er wacht erst dann in die traurige Realität auf, als ihm der Rauch des Feuers scharf in die Nase dringt, ausgelöst durch eine aufs Leichentuch gefallene Kerze. Im davon durchaus wohlinformierten Traum des Vaters stellt ihm der Sohn jene vorwurfsvolle Frage. Was also führt den Wechsel zum Wachsein, zum „Vorstellen-und-Träumen-mit-Realitätsindex“ herbei, der reale Rauch, oder der geträumte Vorwurf? Ist es letzterer, so kann das Wachsein, und dies verteidigt Lacan, feiger sein als zu schlafen. Vom Horror der geteilten und zu teilenden Realität im „Selbsthypnotisiertsein“ während des Wachens driftet man also in den Alp des Schlafens, welches sozusagen - innerhalb eines Moebiusband-artigen Kontinuums - nur noch näher an die traumatische Wahrheit eines bei jedem Subjekt irgendwo gesättigten Schuldgefühls rückt. Denn an die allgemeine Traumatisierung (die Kastration durch Sprache) können später - stets wie in hegelscher Retroaktivität, also nachträglich, ab Reifung zum selbstreflexiven Wesen - bei der ständigen Absichts- und Sinnsuche jederzeit weitere kastrierende Erfahrungen andocken. Von hier aus lässt nun besser das mitunter selbst noch im Wachzustand „Unbehagen“ verbreitende Trauma begreifen, das Kachler im Auge hat, wenn er von traumatisierten Ichzuständen spricht (das allgemeine Trauma als notwendiger Nährboden spielt bei ihm aber überhaupt keine Rolle): Sein angekündigter „neuer Ansatz in der Traumatherapie“ bezieht sich einerseits auf die Ego-State-Therapy, derzufolge viele Persönlichkeitsanteile/Rollen ko-existieren und unter einen Hut gebracht werden sollten (nach Ferenzci und Federn in der ersten Generation von Psychoanalytikern brachten in den 1980ern John Watkins und andere die Konferenz vieler, auch befremdender innerer „Persönchen“ in eine therapeutisch gut anwendbare Form). Andererseits geht es Kachler insbesondere darum, es den von lärmenden traumatisierten inneren Teilperönlichkeiten (aka Ich-Zuständen) terrorisierten Subjekten zu ersparen, zwecks Heilung zuallererst „Täterversteher“ zu werden, wie es manche Theoretiker (auch die der Ich-Zustände) für unabdingbar hielten. Kachlers Ansatz diskutiert erst gar nicht mit dem inneren Täter, sondern weist ihn zurecht, weist ihm die Tür und weist ihm die passende Strafe zu. Denn ein Trauma hinterlasse Täter-Spuren im Denken - im Extremfall bis in die Körpervorgänge und Erbinformationen hinein. Weit optimistischer als die psychoanalytischen Vertreter eines Menschenbildes ontologischer Mangelhaftigkeit hofft Kachler, dass sich solche sogenannten Trauma-„Imprints“ ohne Weiteres symbolisieren und verbalisieren lassen, sofern sie nur in bebilderte Körperräume übersetzt und von einem einfühlsamen Therapeuten (sowie einem imaginären Retter) begleitet werden. Diese „Tatortreinigung“ soll in vielen listenartig durchnummerierten Säuberungsschritten vollzogen werden, bis der böse Geist gründlich ausgetrieben ist. So könne das explizit „weiblich“ adressierte Opfer wieder zu sich finden - diese vielleicht feministisch gemeinte Ansprache wirkt auf manchen Leser und wahrscheinlich noch mehr auf männliche Gewaltopfer allerdings sicherlich nicht allzu empowernd… Überdies suggeriert die manualisierte Form des Schritt-für-Schritt-Durcharbeitens einen in der therapeutischen Realität eher selten anzutreffenden linearen Prozess der Traumaverarbeitung. Allerdings sei diese Idealform wohl vor allem didaktisch zu verstehen. Trotz einiger, gerade aus fundierterer psychoanalytischer Sicht auffälliger Simplifizierungen und den Ungereimtheiten der Reinstallation einer Herrin-im-eigenen-Hause lohnt die Lektüre dieser (Ego-)State-of-the-Art-Präsentation. Attach - MentalitätenSie gilt als bestbeforschter Voraussagefaktor für psychische Störungen, und doch gab es bisher zu der auf Bowlby (und Ainsworth) bzw. die End-1950er zurückgehenden Bindungstheorie keine explizite, sie im Namen tragende Therapie. Dies ändert sich mit der hier im Schlussartikel präsentierten, vom Herausgeber inittierten "bindungsbasierten Beratung und Therapie" (BBT). Der vorliegende Sammelband von 15 Aufsätzen unterstreicht auf 336 Seiten, dass Bowlbys Einsichten in fossilisierte frühkindliche Bindungsstile heute in den unterschiedlichsten Therapieformen anerkannt werden. Nicht verwunderlich, machen sich doch Bindungshaltungen im Grossen wie im Kleinen bemerkbar, kognitiv, affektiv, sozial, aber auch politisch. Darauf kann man unanbhängig von der Therapieschule mit Hilfe der Bindungstheorie eingehen, gleichsam wie man auf schwierigem Terrain den Geländantrieb zuschaltet. Dies tut etwa die systemische Therapie, der es ja tatsächlich je schon um das Herausarbeiten von Bindungsnetzwerken ging. Aber auch die populäre kognitive Verhaltenstherapie bezieht sie mit ein und auch Peter Fonagys Konzept des Mentalisierens ist sie inhärent. Nebst der Frage, welche "Therapieschulen" besonders viel mit der Frage nach Beziehung und Bindung anfangen konnten, widmen sich einige Aufsätze auch einzelnen Störungsbildern, die vermutlich infolge von enttäuschten Bindungsbedürfnissen entstehen: bei den "früh" grundgelegten Traumata und Persönlichkeitsstörungen, noch allgemeiner (und eigens abgehandelt) bei der Entwicklung des Stresssystems und des psychoneuronalen Immunsystems. Am wenigsten erwartet, aber mit am spannendsten war Herbert Renz-Polsters Artikel "Politik auf dem Wickeltisch", der einen Blick wirft auf die Bindung als Faktor bei der Herausbildung der sogenannten autoritären Persönlichkeit, also sowohl Tyrannen als auch ihren allzu bereitwilligen Gefolgsleuten. Der psychoanalysierende Adorno in den 1950ern: Unterdrückte werden gern wieder unterdrückt - oder zu Unterdrückern. Präziser die Bindungsforschung 2020er: früh fehlende Bindungsarbeit aka Zuwendung züchtet ängstliche, im Auftreten aber autoritär erscheinende Menschen heran. Was ihnen früh fehlte macht sie lebenslänglich abhängig vom Abhängigsein, von Autoritäten ("Flucht in die Sicherheit"). Apropos Psychoanalyse: die Bindungstheorie entstand ja eigentlich in ihrem Schoss, war Bolby doch zunächst Anhänger der Objektbeziehungstheorie. Allerdings führte ihn gerade die Haltung seiner Supervisorin, Melanie Klein, in die Dissidenz, wo er sich nicht darauf einlassen wollte, nur vorgestellten Beziehungen Aufmerksamkeit zu schenken, sondern (wie Freud einst mit seiner These realer Frühübergriffigkeit von Bezugspersonen) auch ganz konkret beobachtbare Bindungen zur Grundlage nahm: vereinfacht gesprochen stehen bei ihm nicht im Vordergrund aufs Ödipale hin überhöhte Klagen über die Eltern als ungut verinnerlichten Objekten, sondern ganz allgemein eben die Frage, wie und wie gut das Bedürfnis nach Sicherheit früher gestillt wurde und entsprechend jetzt im Kontakt mit anderen immer wieder mehr oder weniger klar und angemessen spürbar wird. Damit ist für die Bindungstheorie das sozial gespiegelte Leben Fix- und Ankerpunkt, wie es kontraintuitiv von Hegel, Nietzsche oder auch Freud zur Nebensache - verglichen mit stärkeren Vektoren - erklärt wurde. Wenn es ein Vermächtnis der Psychoanalyse ist, das Wesen des Menschen auch darin zu erkennen, dass er sich gegen den Wunsch nach Halt in haltlose Strudel begibt, dass er sich kasteien und Dinge aufs Spiel setzen kann, so entfernt sich Bowlby aus dieser "gefährlichen", kopernikanische Gewissheiten erschütternden Psychoanalyse und schlägt sich auf die Seite des bewussten, selbstaufwertenden Sicherheitsdenkens, sympathisiert mit Darwin und der Biologie des Anpassens und Überlebenwollens und bedient sich hierfür eklektisch bei Argumenten aus Evolutionsbiologie, Verhaltensforschung, Kognitionswissenschaft, Anthropologie und Kybernetik. Dabei zeigt er sich recht ähnlich dem anderen grossen Freud-Dissidenten: Lacan. Dieser aber blieb bei allem Widerstandsgeist durchaus freudianisch in der Grundüberzeugung, dass die Subjekte vom Unbewussten her als dezentriert, innerlich niemals sicher gebunden, sondern fundamental "entbunden" gelten müssen. Den viel mehr als bei Klein ewig schillernden inneren Objekten der Begierde sei der Mensch auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, so Lacan, der somit bindungstheoretisch mit nichts anderem als "unsicher" gebundenen Subjekten rechnet. Die Sprache entferne von Welt, färbe zugleich die Vorstellungen von Objekten, die immer wieder neu locken und doch unerreichbar auf Diatanz halten. Sicherheitsstreben und Rationalität haben von da aus nur noch den Status eines Aberglaubens, eines Schutzamuletts fürs gute Gefühl. Schwer zu sagen, wer hier besser spekuliert: Sind unsicher Gebundene doch eher Opfer einer tendenziell beziehungsunfähigen Mutter, deren Verhalten das Wachs der Weltrepräsentanz nicht gut zu prägen vermochte und einen Schalter hin zu "Bindungsstress" umlegt? Oder ist mit Lacan gesprochen der "Seinsmangel" ein Menschenschicksal, conditio humana, und somit das vermeintlich unsicher gebundene Streben gen Todeszone und Flausenhaftigkeit schlicht menschliche Normalität? Link zu Amazon Jenseits der PsychobiographieDas Firmen-Und im Titel ist vieldeutig: das eine über das andere, das andere über das eine, sowohl das eine als auch das andere. So sind wir mitten in Shohana Felmans 1982er These, dass bei der Besetzung der mit „Et“ aufgerufenen Sparringspartner im Falle von Literatur und Psychoanalyse geschriebene Literatur und deutende Psychoanalyse, aber auch die ein schriftliches Medium suchende Psychoanalyse und die dabei ihr behilflich seiende Literatur gemeint sein können: dass also gerade diese beiden recht ineinander gefaltet sind... Denn zum einen geht es natürlich auch um die bekannteste Literaturtheorie der Psychoanalyse, die „Psychobiographie“, die das ödipale Deutungsschema vom direkt dem Analytiker klagenden Patienten einfach auf den abwesenden Autoren überträgt, der nun auch ungewollt, auf jeden Fall ungefragt dem freudianisch eingestellten Leser mit seinen textlichen Äusserungen zeigt, wie es ihn doch zur Mutter zieht, wie er gegen den Vater rebelliert... Daneben kümmert sich das Handbuch aber auch um das ästhetisierte Schreiben der Literatur, deren „Techniken“ sich ja auch Freud selbst in Vignetten und Novellen-artigen Krankengeschichten zu Nutze macht, um Wissenschaftsprosa zu schreiben. So gesehen ist eigentlich jedermann Literat, der eine „manifeste“ Darstellungsform sucht, während eben jenes Interesse an Stil oder am Eingemachten des je eigenen menschlichen Dasains durch die Poren dringen darf. Was im Alltagsgebrauch der Sprache einfach mitrausrutscht, wird von Dichtern, von antiken Tragikern, von modernen Romanciers und eben von Freud lediglich klarer oder spannender metaphorisiert und metonymisiert (laut Freud zugleich auch die Premium-Traumtechniken, weshalb zwischen „ich sage“ bzw. belle-lettristisch „ich schreibe“ und dem unbewussten „mir träumt es“ nur noch ein gradueller Unterschied besteht). Unser (un-)bewusster Gedankenstrom ist so gesehen jederzeit schon literalisiert - und zugleich mit den psychoanalytischen Themen menschlicher Grundkonflikten unterfüttert. Drittens unterstreicht also das Triebkraft & Darstellung, Wille & Vorstellung trennende wie verbindende „&“ ihre mutuelle Bezogenheit, die letztlich die subordninierende Aufteilung in „manifest“ (sag- und schreibbar) und „latent“ (die dahinterstehende Phantasie) in Frage stellt. Genau dies war der Punkt, den die im Handbuch wiederholt zitierte Felman machte, dass nämlich nicht der (psychoanalysierende, psychobiographisierende) Interpret der Herr, der Text entsprechend der in seiner eigentlichen Motivation entlarvte Knecht sei, sondern das Machtverhältnis - gerade in Folge von Lacans Idee des unbewusst so zielsicheren Buchstabens - auch umkehrbar sei. Mit dieser Einsicht spielt es dann aber auch keine Rolle mehr, wer hier Herr und wer hier Knecht sei, vielmehr geht es um den Versuch, ein Sowohl-als-Auch zu denken: die Psychoanalyse zeigt das Unbewusste der Literatur auf (die Interessegeleitetheit von Aussagen), während ihr Aufzeigen selbst unbewussten Mechanismen der Versprachlichung unterliegt, die „belles lettres“ ein vielleicht ganz eigenes Ziel verfolgen... Dass der Gründervater der Psychoanalyse eher noch die Kräfte messen wollte, wird hier treffenderweise als „Freuds Komplex“ bezeichnet, sprach er zwar 1907 von einer „Bundesgenossenschaft“ der Psychoanalytiker-Shrinks und der Dichter, begann aber kurz darauf, die Literaten degradierend zu pathologisieren als weltfremde Tagträumer, vom Penner oder auch von den unbewussten Kräften der „Traumwerkmeister“ nur getrennt durch das Talent, dem Leser den Privattrip ästhtesiert als Denkanstoss anbieten zu können, ihm dabei „Ersatzlüste“ zu verschaffen. Freud war zwar keineswegs ein Seinsvergesser, aber manchmal doch ein Deutungsvergesser, was sein Kollege Wilhelm Stekel zur „Psychobiographie“ ausbaute und der literturkritischen Seite der Psychoanalyse zu Recht einen schlechten Ruf bei verwandten hermeneutischen Disziplinen einbrachte. Philosophisch wird nach Eckart Goebels Neu-Eröffnung des vor fast vier Jahrzehnten von Felman abgesteckten Feldes leider nicht viel nachgeschoben, denn das gut 700 Seiten starke Kompendium fragt v.a. im Detail nach, welche Theorieströmungen (Rhetorik, Gender-Studies etc.), welche Literaturgattungen (Tragödie, Krimis, moderne Literatur usw.) und welche literarischen Figuren (etwa Ödipus oder Antigone) der Psychoanalyse auf welche Weise ihren Stoff gaben. Über das Literatur und Psychoanalyse gemeinsame Thema, wie genau der Buchstabe uns leitet und was ein „McGuffin“ damit zu tun hat, davon hätte man gerne noch mehr gelesen (denn wo Lacan in Poes Detektiv-Story schon den blossen Briefumschlag als Auslöser eines Eiertanzes aller Beteiligten identifiziert, empfiehlt Angus MacPhail den Drehbuchautoren, ominöse Gadgets in ihre Plots einzubauen, z.B. ein auffälliges Gepäckstück unbekannten Inhalts, aber mit komischem Namen als Handlungstreiber: Man sieht, Umschlag wie Koffer ziehen v.a. die Aufmerksamkeit auf sich, der Inhalt ist jeweils nur angedeutet, aber auch selber sind diese Quatsch-Objekte, die wie heilige Grale gejagt werden eigentlich völlig belanglos und austauschbar. Im Zeitalter des Internets wären wohl „Clickbaits“ ähnliche Interessefänger ohne schwerwiegenden Content: einfach der Stein des Anstosses, den ein Sisyphos unserer Zeit bereit ist, den Berg hinaufzurollen...). Bemerkenswert ist in jedem Falle noch der Versuch, die Geschichte vom Träumen, Aufwachen, Traumerinnern und -Nacherzählen auf die Literaturgeschichte zu übertragen: Diese erwacht gewissermassen von nebulöser traumartiger Lyrik über das zurückbleibende Gefühl von Drama-tischem hin zu geglättet weitererzählter Prosa. Dies liesse sich nochmals abstrahieren zur Abfolge Prosodie, Sprache, Schrift. Dass gerade der psychoanalytische Schriftbegriff damit aber nicht ganz deckungsgleich ist, wäre eine andere Geschichte... Link zu Amazon Innerliches Erröten deckt die Welt mit roten Tüchern zu: ein übersehener Symptomtreiber und wie man ihn behandelt- Inkl. Vergleich dieses neuen schulübergreifenden Ansatzes mit dem Klassiker der Psychodynamik Bei der Lektüre des bisher vielleicht auch schamhaft übersehenen Paradigmas eines stets am Abgrund zur Peinlichkeit wandelnden Menschen muss man sich die Augen reiben, dass keines der Klassifikationssysteme die Scham kriterial erwähnt – wo diese doch fast immer Mitursache und Motor vordergründigerer Symptome ist, ihre Mitproblematisierung also therapeutisch eminent fruchtbar sein kann. Vielleicht leben wir, wie Uli Poschardt meinte, schon so sehr im Zeitalter der Lässigkeit, dass wir uns nur noch normierend gegenseitig distanzierte Gesten verordnen, sich ein Zulassen und kathartisches Abbauen von Scham als „uncoolstes“ Verhalten verbietet… Andererseits wäre die eigentliche Bürde bei all dem: die Zeitgeist-Metakrankheit des erzwungenen Ableugnens der Scham heilbarer als das generelle Unbehagen durch die Scham, das etwa nach Hegel entwicklungspsychologisch signalisiert, wie sehr man mit dem ewigen Scheitern völliger geschlechtlicher Vereinigung hadert. Oder eher nach der intuitiven Auffassung: wie sehr man gleich dem Schamhaar am liebsten den Blick auf die unwillkürlichen, „unschuldig-schuldigen“ Regungen von Trieben verdecken will. Die Ethik Sartres und die französische Psychoanalyse nehmen Partei für solche nicht-domestizierten Phantasien, verstehen die Scham entsprechend als ein Warnsignal unnötigen Abweichens vom ureigensten Begehren, vom Selbstsein abseits der Statussuche und Kompromisse. Später verkofferwortet Lacan mit seinem Neologismus „H-ontologie“ die schamvolle Seinslogik eines „homo geniericus“: jederzeit gefährdet, im Stolz verletzt zu werden, und dann am liebsten gleich vor Scham sterben (nur dem vollends ridikülisierten Rechtsanwalt Jacoby in Thomas Manns „Luischen“ widerfährt ein solcher Tod dann auch wirklich). Schon im Wunsch macht sich der Todestrieb als eine Art „mentale Anorexie“ (Antonello Sciacchitano) bemerkbar. Dieser gleicht mitnichten einem inneren Sensenmann, der blind jegliche aufkeimende Lebensfreude exekutiert, sondern entfremdet das Sinnerleben, das „Return-to-Sender“ unterstellter Anderenurteile, in eine schnell generalisierte, eben schamhaft erlebte Erwartung von Todesurteilen. Eine sehr spezielle Art also, den Anderen als „Moralin“ einzunehmen bzw. auf sich zu nehmen. Erweitert man Freuds Vektor „Hemmung-Symptom-Angst“, wäre die schamhafte Verlegenheit (die v.a. die Worte für das affektive Moment „verlegt“) kein Mittelding, sondern genauso sprachlos „wissend“ die Gefahr der Berührung eines inneren Objekts signalisierend wie die Angst – dabei aber doch genauso panikfern verkapselt wie die Hemmung. Scham ist also eine komplexe heimisch-nahe, dabei fern verborgen unheimlich-entfremdende Emotion. Und noch dazu eine eminent soziale, jedoch nicht mehr an einer konkreten Schuld abarbeitbar und oft tückisch mit Merkmalen des Verschämten noch getarnt. Die neuste Annäherung an das Phänomen stammt von der Hamburger Psycho- bzw. Hypnotherapeutin Maren Lammers, die schon ihre Diplomarbeit der Scham widmete und 2006 beim unspezifischer „emotionsbezogenen“ Vorgängerbuch mitwirkte. Vergleichen wir ihre „State-of-the-Art“-Publikation aufgrund diverser aufschlussreicher bis überraschender Ähnlichkeiten mit der klassischen, freilich 35 Jahre früher erschienenen Großbearbeitung des Themas:
Wurmsers Lebensknoten auflösende Globalkatharsis wie auch ein bald schon konkurrenzfrei wohlwollender Blick scheinen mir nur im Rahmen einer sehr langen Analyse denkbar. Und auch die Idee, bei einer Spätsättigung schon verhungerter Bedürfnisse anzusetzen, wie es sich im vergleichsweise modernen Optimismus des neuen Praxishandbuchs von Maren Lammers ausspricht, sollte den sensibilisierten Helfer nicht allzu „siegessicher“ stimmen. Denn es bleibt fraglich, ob ein innerlich aufgebauter „Bedürfnisdetektiv“ wirklich auch Fälle eines schamhaft mit roten Tüchern verhängten Lebens löst (indem er gewissermaßen wie bei TV-Einrichtungsshows einen Tapetenwechsel verordnet, wo gar nicht die Einrichtung oder der Bedarf das Problem sind). Abseits der Feinheiten sich bewährender Praxis ist indessen schon das Erscheinen des Mammutwerks von Lammers überhaupt ein Verdienst. Denn damit kommt das Thema hoffentlich vielerorts in seiner grundlegenden Tragweite auf die therapeutische Tagesordnung. Und dort erweist sich das „Praxishandbuch“ erwartungsgemäß bei Umsetzungstipps als äußerst ideenreich und virtuos, wenn auch angesichts des „Angesichtskomplexes“ nicht jede Idee auch schon Therapierezept sein kann. Link zu Amazon
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